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Reichsbürgerin soll hinter Gitter
Im Norden wächst die Gefahr durch Personen, die den Staat nicht anerkennen
Zu dreieinhalb Jahren Freiheitsentzug ohne Bewährung hat das Landgericht Lüneburg die vor allem bei sogenannten Reichsbürgern und Selbstverwaltern bekannte Heike Werding am Dienstag verurteilt und war damit der Forderung der Staatsanwaltschaft gefolgt. Doch die 61-Jährige, die die Bundesrepublik nicht anerkennt, legt sich mit diesem Staat nun weiter an: Am Donnerstag gab das Gericht bekannt, dass Werding Revision gegen das Urteil einlegt, das damit noch nicht rechtskräftig ist.
Dem Richterspruch zufolge hat sich die Frau der Volksverhetzung schuldig gemacht, gegen ein Vereinigungsverbot verstoßen, Propagandamittel verfassungswidriger Organisationen verwendet und sich als Rechtsanwältin ausgegeben, obwohl sie keine war und ist. Bereits am ersten Prozesstag hatte die 61-Jährige zugegeben, sich unter falschem Namen als Juristin ausgegeben zu haben. Sie erkennt die staatlichen Systeme nicht an und bezeichnet die Bundesrepublik als »Firma«. Unter anderem stellte Werding sogenannte Lebendurkunden für 200 Euro als Alternative zu Personalausweisen für ihre Anhänger aus. In der Verhandlung hatte sie gesagt, sie sei gegen jede Gewalt. Die Frau sitzt seit April in Untersuchungshaft. Für besonders schwerwiegend mag die Staatsschutzkammer die Rolle Werdings in einer verbotenen Vereinigung bewertet haben: in der Gemeinschaft »Geeinte deutsche Völker und Stämme«. Sie gilt als Mitgründerin dieser Gruppierung, über die das Bundesinnenministerium im März 2020 durch Razzien in zehn Bundesländern Erkenntnisse gewinnen wollte.
Rund 400 Polizisten durchsuchten Räumlichkeiten bei 21 führenden Mitgliedern des in Berlin gegründeten Vereins. Dabei wurden Schusswaffen, Baseballschläger und Propagandamaterial sichergestellt. Der damals amtierende Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) verbot die Organisation kurz darauf. Grund dafür war unter anderem die verfassungsfeindliche und antisemitische Haltung der Vereinigung. Deren Anhängerschaft spricht der Bundesrepublik Deutschland ihre Legitimität ab. Trotz des Verbotes hatte Werding den Verein gefördert. Darüber hinaus verbreitete sie in Vorträgen und sozialen Medien rassistische Ideologien.
Nicht wenige Menschen mögen die Reichsbürger noch immer als durchgeknallte Spinner abtun, die Realitäten verneinen, vor allem die Existenz der Bundesrepublik. Diese wird mal als »Firma« bezeichnet, mal als »Königreich« oder als »immer noch bestehendes Deutsches Reich«. Mancherlei obskures Konstrukt haben sich die einzeln oder in Kleingruppen agierenden Reichsbürger erdacht.
Nicht minder obskur sind »Dokumente«, die sie anfertigen: durchweg ungültige Pässe, Führerscheine und Urkunden. Zudem gehören krude Thesen und Verschwörungserzählungen zum Repertoire der Reichsbürger, beispielsweise wildeste Mutmaßungen über angebliche Profiteure der Covid-Impfungen oder die antisemitische Behauptung, der Erste Weltkrieg sei von Juden geplant worden, um »den Engländern Jerusalem abzukaufen und dort einen satanischen Tempel zu bauen«. Von einigen Reichsbürgern und ihren Gruppierungen gehen ernst zu nehmende Gefahren aus, vor allem wegen deren Affinität zu Waffen und der Bereitschaft zur Gewalt, besonders gegen Vertreter des Staates.
Die meisten Reichsbürger in Norddeutschland sind in Niedersachsen zu finden. Rund 900 Personen hat das Landesamt für Verfassungsschutz dort in seinem Bericht 2021 gezählt. Auch im Nordwesten haben sich Aktive der Szene mit körperlicher Gewalt, zum Teil auch unter Einsatz von Waffen, gegen staatliche Maßnahmen zur Wehr gesetzt. Zahlen zu bei Reichsbürgern vorhandenen Waffenscheinen und Waffen nennt der niedersächsische Geheimdienst nicht. Im Nachbarland Mecklenburg-Vorpommern gehen die Sicherheitsbehörden von 650 Angehörigen jener Szene aus, etwa 50 mehr als 2020; rund 160 dieser Personen gelten als gewaltbereit. Unter den Frauen und Männern mit Waffenerlaubnissen im Nordosten seien 26 Personen, die der Verfassungsschutz zur Reichsbürgerszene zählt.
Im Stadtstaat Bremen ist die Zahl entsprechend orientierter Menschen seit Jahren mit 100 ziemlich stabil geblieben. Wie viele Reichsbürger legal über Waffen verfügen, teilt die Behörde nicht mit, aber: Es gebe Erlasse zur Entziehung waffenrechtlicher Erlaubnisse. Darin wird Reichsbürgern grundsätzlich die charakterliche Eignung zum Führen von Waffen abgesprochen.
Hamburg geht von aktuell 259 Reichsbürgern aus. Darunter solche, die durch ihren Hang zu Waffen auffallen sollen. Das werde durch entsprechende Funde belegt, heißt es. Es bestehe die Gefahr, dass Szeneangehörige bereit sind, ihre Waffen – auch die Hansestadt nennt keine Zahlen – für Gewalttaten einzusetzen, warnt die Innenbehörde.
In Schleswig-Holstein wuchs die Zahl der Reichsbürger von 2020 zu 2021 um rund 100 auf 480. Darunter sind 17 Waffenscheinbesitzer, die zusammen über 58 registrierte Waffen verfügen. Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) hatte bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes Ende Juli zur Begründung angeführt, das Erstarken der Reichsbürger stehe auch in einem Zusammenhang mit dem staatlichen Corona-Management. Weil die Szene staatliche Maßnahmen grundsätzlich als unrechtmäßige Repressalien auffasse, sei sie zu deren Bekämpfung öffentlich stärker in Erscheinung getreten und habe ihre Ideologie dabei nach außen getragen. Ziel sei es auch gewesen, damit nicht zu den Reichsbürgern zählende Maßnahmenkritiker anzusprechen und zu rekrutieren.
Wie in anderen Bundesländern hat auch der Verfassungsschutz in Schleswig-Holstein inzwischen einen eigenen Arbeitsbereich in seiner Behörde eingerichtet, um sich verstärkt mit der wachsenden Reichsbürgerszene beschäftigen zu können.
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