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Von wegen heißer Herbst
Linke Krisenproteste haben bisher nicht richtig gezündet. Ein Rückblick auf die Septemberstreiks 1969 zeigt, dass es auch anders geht
Bisher war der vielbeschworene heiße Herbst eher ein laues Lüftchen. Höhepunkt der linken Krisenproteste war eine Demonstration unter dem Motto »Umverteilen jetzt« mit etwa 7000 Teilnehmenden am 12. November 2022 in Berlin. Die Organisator*innen hatten sich in der Nachbereitung darauf verständigt, auch künftige Aktionen unter diesem Label durchzuführen. Angesichts der Tatsache, dass bereits seit Herbst 2020 ein bundesweites Bündnis unter dem Motto »Wer hat, der gibt« für die Umverteilung von oben nach unten eintritt, steht aber zu befürchten, dass die linken Krisenproteste ihren Zenit schon überschritten haben.
Ein Grund dafür könnte sein, dass sich die linken Aktivist*innen bei den Protesten gegen Inflation und Krise vor allem mit sich selbst versammelt haben. Im Vorfeld der »Umverteilen«-Demo gab es in vielen Berliner Stadtteilen zwar unterschiedliche Aktionen, um Menschen zum Widerstand gegen die Abwälzung der Krisenfolgen auf große Teile der Bevölkerung zu mobilisieren. Auch wenn das im Kleinen zu guten Gesprächen führte, können diese aber natürlich nicht die gesellschaftliche Schwäche der Linken kompensieren.
Sowohl die Linke in Deutschland insgesamt als auch die Linkspartei schaffen es nur noch begrenzt, Menschen auf die Straße zu bringen. Diese geringe Mobilisierungsfähigkeit ist Ergebnis des Bedeutungsverlusts der gesellschaftlichen Linken sowie fehlender Bündnisse mit jener gewerkschaftlichen Bewegung, die zumindest in ihrer Geschichte die Erfolge vorzuweisen hat, auf die linke Kampagnen im jetzigen Krisenherbst abzielen. Es lohnt sich daher, an die Streikwelle 1969 und 1974 zu erinnern.
Verdi blickt zurück
Bei der Demonstration vom 12. November dieses Jahres wurden, wie an Transparenten und Fahnen erkennbar war, auch kleinere Teile der gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen angesprochen. Diese Stoßrichtung kam vom Protestbündnis »Genug ist Genug«, das nach dem Vorbild Großbritanniens die Krisenproteste mit den anstehenden Tarifkämpfen in verschiedenen Branchen zu verbinden sucht. Auf einem ersten großen Treffen der Kampagne in Berlin am 13. Oktober 2022 sprachen nicht linke Bewegungsaktivist*innen, sondern Beschäftigte von der Müllabfuhr, der Post, aus dem Krankenhaus oder Lehrer*innen. Sie alle erklärten, dass es in den nächsten Tarifkämpfen keine Reallohnverluste geben dürfe. Bei der gegenwärtigen Inflationsrate bedeute dies eine Lohnerhöhung in zweistelliger Höhe.
Für eine solche Forderung wäre allerdings eine gesellschaftliche Auseinandersetzung nötig, die über den Kampf in den Betrieben hinausgeht. Das hat die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi schon 2008 beim Streik im Einzelhandel erkannt, sie verbündeten sich damals mit kritischen Kund*innen und zivilgesellschaftlichen Gruppen, die den Tarifkampf unterstützten. Daran könnte bald wieder angeknüpft werden. In der sechsten Ausgabe 2022 von Verdi Publik, der Mitgliedszeitung der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, benennt Petra Welzel diese gesellschaftliche Dimension: »Bund und Kommunen werden so im Herbst und Winter auch einen Vorgeschmack auf die Tarifauseinandersetzungen im kommenden Jahr bekommen. Bei der Berliner Stadtreinigung BSR organisieren die Vertrauensleute im Betrieb jetzt neue Mitglieder und auch schon ihre Streiktrupps.«
Der Artikel schließt mit einer historischen Reminiszenz: »Ihre Vorläufer 1974 hatten seinerseits übrigens 15 Prozent mehr Geld gefordert, drei Tage gestreikt und dann 11 Prozent bekommen. Wenn das keine Steilvorlage ist.« Tatsächlich ist der Arbeitskampf im öffentlichen Dienst von 1974 bis heute für die wirtschaftsnahen Medien wie der »FAZ« oder dem »Handelsblatt« ein rotes Tuch. Denn hier setzte eine DGB-Gewerkschaft sogar in der Zeit eines SPD-Bundeskanzlers mit Hilfe des Arbeitskampfs massive Lohnerhöhungen für die Beschäftigten durch. Der dreitägige Streik bei der Müllabfuhr machte zudem deutlich, welche Macht die Lohnabhängigen in der Branche haben, wenn sich schon nach drei Tagen die Müllberge in den Städten stapelten. Es ist ein ermutigendes Zeichen, wenn sich die Verdi-Medien positiv auf diesen Arbeitskampf beziehen und die Nachahmung empfehlen.
Streik gegen die Sozialpartner
Es gab jedoch ein weiteres Beispiel eines Arbeitskampfs, der knapp fünf Jahre zuvor stattgefunden hatte und in den Medien von Verdi nicht vorkommt: Die Streikwelle im Herbst 1969, bei der innerhalb von zwei Wochen mehr als 140 000 Beschäftigte die Arbeit niederlegten. Ausgangspunkt dieser »Septemberstreiks«, die heute zum festen Begriff geworden sind, war die zum Stahlkonzern Hoesch gehörende Westfalenhütte in Dortmund. Von dort breiteten sich die Arbeitsniederlegungen innerhalb weniger Tage über das gesamte Ruhrgebiet auf die saarländischen Bergbaubetriebe und die norddeutschen Werften aus. Auch in der Textilindustrie und dem öffentlichen Dienst traten Beschäftigte in den Streik. Die selbstorganisierten Arbeitskämpfe vom September 1969 richteten sich aber nicht nur gegen die Unternehmen, auch die Politik der Gewerkschaften wurde praktisch angegriffen. Insofern wundert es nicht, dass Verdi sich auf diesen Streik nicht positiv bezieht.
Die Gewerkschaften hatten in den Augen der Streikenden mit dem Regierungsantritt der Großen Koalition im Jahr 1966 endgültig jeden Klassenkampfgedanken aufgegeben. Sie waren der »Konzertierten Aktion« beigetreten, jenem Gremium, in dem Gewerkschaften, Unternehmerverbände und das Wirtschaftsministerium die Tarifpolitik aushandelten. Die Folge waren spürbare Lohneinbußen für die Beschäftigten. Im Zuge der ersten großen Konjunkturkrise in der damals noch relativ jungen Bundesrepublik, die 1966 begann, akzeptierten viele Arbeiter*innen die Ergebnisse zähneknirschend. Nachdem die Konjunktur aber bereits 1967 wieder angesprungen war, die Gewerkschaften jedoch weiter Lohnzurückhaltung propagierten, wuchs in den Betrieben die Unzufriedenheit. Während der Streikwelle wurden viele Betriebe von den Arbeiter*innen besetzt. Mit Großdemonstrationen wurde der öffentliche Druck auf die Arbeitgeber erhöht.
Die Ergebnisse konnten sich sehen lassen. So erstreikten etwa die Beschäftigten der Bremer Hütte Lohnerhöhungen von 11 Prozent. Die Beschäftigten der Hoesch AG hatten nach dem Ausstand ihren Stundenlohn um 30 Pfennig aufgestockt. Nur in wenigen Betrieben blieben die Streiks erfolglos. Doch auch über den tarifpolitischen Aspekt hinaus waren die Septemberstreiks von großer Bedeutung: Innerhalb der IG-Metall erstarkte eine kämpferische Strömung, die fortan mehr auf betriebliche Kämpfe setzte. Das zeigte sich dann 1974 bei dem kurzen, aber wirkungsvollen Arbeitskampf im öffentlichen Dienst, der nun von Verdi lobend hervorgehoben wurde.
Randgruppen oder Arbeiterschaft?
Es ist umstritten, welche Auswirkungen der gesellschaftliche Aufbruch von 1968 und die Außerparlamentarische Opposition (APO) auf die Septemberstreiks hatte. In vielen Fällen distanzierten sich Streikende von linken Studierenden, die ihre Unterstützung anboten, sahen in ihnen in erster Linie privilegierte Bürgerkinder. Wo es allerdings schon länger Kontakte zwischen APO und linken Gewerkschafter*innen gab, da entstand auch eine erfolgreiche Zusammenarbeit.
Große Auswirkungen hatten die Septemberstreiks allerdings auf die theoretische und praktische Arbeit der APO. Die Theorien der Frankfurter Schule und deren Analyse der spätkapitalistischen Gesellschaft des Westens hatten auch eine Skepsis gegen die Arbeiter*innenschaft mit sich gebracht: Die Lohnabhängigen seien fest ins System integriert und eine Veränderung der Gesellschaft würde eher von sogenannte Randgruppen ausgehen. In den Septemberstreiks entdeckten viele Studierende dann die ArbeiterInnenklasse wieder neu als politisches Subjekt; die daraufhin entstandenen und miteinander konkurrierenden kommunistischen Zirkel und Kleinstparteien entwickelten gar den Anspruch, die Arbeiter*innenklasse anzuführen. Aber auch damit stießen die Linken auf wenig Gegenliebe.
Diesen Fehler scheint die – heute wesentlich schwächere – gesellschaftliche Linke derzeit nicht zu wiederholen. In der gegenwärtigen Debatte um Identitätspolitik wird die Kategorie Klasse oft ganz verworfen und linke Politik erschöpft sich schnell in progressivem Neoliberalismus. Dabei könnte eine verbindende Klassenpolitik, die rassistische und patriarchale Unterdrückung nicht zum Nebenwiderspruch erklärt, durchaus die Grundlage für dringend notwendige Zusammenschlüsse bieten. Bündnisse wie »Genug ist Genug« könnten so dafür sorgen, dass aus dem lauen Herbst der Krisenproteste wenigstens ein Frühling der Tarifkämpfe wird. Das Gelingen wird aber unter anderem davon abhängen, ob Verdi nicht nur radikal tut, um dann schnell einen Tarifvertrag abzuschließen, der Reallohnverluste beinhaltet. So hat es zuletzt die IG-Metall vorgemacht und damit ein negatives Signal gesetzt. Der Kampf gegen eine solche Verzichtpolitik ist eine Lektion aus den Septemberstreiks 1969.
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