- Politik
- Krieg gegen die Kurden
Bomben auf die Helfer
Die Türkei greift in den kurdischen Gebieten auch zivile Ziele an und verstößt gegen geltendes Recht
Die Fenster beben, der Boden bebt, wir hören unsere Namen, gefolgt von einigen kurdischen Wörtern. Dann ein weiterer Knall. Wir können das stechende Geräusch des Flugzeugs, das über unsere Köpfe hinweg fliegt, förmlich spüren. Wie eine Spinne wandert es über unsere Rücken. Die Fenster beben, der Boden bebt, die dritte Rakete schlägt ein. Es folgt der Befehl, sich schnell auf den Boden zu legen. Von unten kommen Kinderschreie. Das Nötigste passt in die Jackentasche und wir nehmen nur die Kamera mit.
Die Großmutter hält die kollektive Angst im Zaum. Wir sind im sichersten und wärmsten Raum, insgesamt etwa 14 Personen. Die meisten Kinder schlafen, außer Armanc, der mit verschränkten Armen und zitternd auf den Beinen seiner Mutter liegt. Die Großmutter betet. Dann blickt sie mit offenen Armen auf und sagt: »Erdogan, warum tust du uns das an? Kurden zu sein – ist das alles, was wir getan haben?«
Muhamed, der Vater einiger Kinder, sucht auf seinem Handy nach Informationen. »Es scheint, dass nicht nur Kobanê, sondern auch andere Städte gleichzeitig angegriffen werden«, sagt er und liest ihre Namen vor: »Derik, Ain Digna, Ayn Al Arab, Tal Rifat, Malikiyah, Şehba, Zirgan.« Außerdem wurden weitere Gebiete außerhalb von Nordostsyrien getroffen, die für die kurdische Bewegung seit 40 Jahren eine große Bedeutung haben. Zum Beispiel das Qandil-Gebirge und weitere Orte im kurdischen Nordirak.
Der Morgen des 20. November begann mit einem Tweet des türkischen Verteidigungsministers Hulusi Akar, der bekanntgab, dass die Operation »Klauenschwert« erfolgreich durchgeführt wurde. Es seien mehr als 80 Ziele im Nordirak und im Gebiet der autonomen Selbstverwaltung Nordostsyriens angegriffen worden. Die Angriffe in Nordsyrien breiteten sich von Derik, der irakisch-türkisch-syrischen Grenze, bis zum Bezirk Şehba aus, 40 Kilometer von der Stadt Aleppo entfernt. Der gesamte Luftraum in diesem Gebiet wird von den USA und Russland kontrolliert, was darauf hindeutet, dass beide Länder grünes Licht für den Angriff gegeben haben oder wegschauten.
In Kobanê war eines der Angriffsziele ein Corona-Krankenhaus. Am nächsten Morgen suchten Journalist*innen den zerbombten Ort auf und die Türkei griff wieder an. Ein Reporter wurde verletzt. In der nordsyrischen Stadt Derik wurden in der gleichen Nacht zwei Wachen eines Kraftwerks getötet. Als Menschen kamen, um zu helfen, darunter Krankenschwestern und Journalisten, griff die Türkei erneut mit Kampfflugzeugen und Drohnen an. Neun weitere Menschen starben. Ein halbes Dutzend wurde verletzt. Diese Doppelangriffe werden durch das Genfer Abkommen verboten: Wenn ein Ort bombardiert wird und Menschen zur Hilfe eilen, dürfen diese nicht wieder bombardiert werden. Laut der in Großbritannien ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden innerhalb der ersten zwei Angriffstage allein in Nordsyrien mindestens 31 Menschen getötet.
Zurück in Kobanê: In der ersten Angriffsnacht versucht die Familie, bei der wir zu Besuch sind, herauszufinden, wie es anderen Familienangehörigen geht und ob sie neue Informationen haben. Die Großmutter ist in einer Whatsapp-Gruppe von Verwandten Gefallener. Sie verlor selbst zwei ihrer Kinder: Eines davon starb, als es von der Terrormiliz Islamischer Staat hinterlassene Minen entschärfte.
»Bisher gab es hier vor allem türkische Drohnen. Man hat sie erst bei der Explosion gehört oder am nächsten Tag davon erfahren. Jetzt sind die Flugzeuge zurück, die Lage muss sich verändert haben«, erklärt Muhamed. Die App »Syria live map« zeigt an, dass die von Russland kontrollierte Flugzone freigegeben ist. Dazu gehört auch der Luftraum über Kobanê, wo wir uns aufhalten.
Ein paar Tage nach der Bombennacht in Kobanê nehmen die Angriffe im Gebiet der autonomen Selbstverwaltung flächendeckend zu. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan kündigte in einem Fernsehinterview an: »Seit einigen Tagen sind wir mit unseren Flugzeugen, Bomben und Drohnen den Terroristen auf der Spur. So Gott will, werden wir sie bald alle mit unseren Panzern, unserer Artillerie und unseren Soldaten ausrotten.«
Allerdings hilft die Türkei mit ihren Angriffen ausgerechnet den wirklichen Terroristen in der Region. Als Erdoğan seine Rede hielt, bombardierte eine türkische Drohne nördlich der Stadt Haseke einen Stützpunkt der internationalen Koalition gegen den sogenannten Islamischen Staat.
Dieser Text erschien zuerst auf der argentinischen Nachrichtenwebsite latinta.com.ar. Übersetzung aus dem Spanischen: Linda Peikert.
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