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- Ukraine-Krieg
»Wir sind verdammt, uns zu vertragen«
Im Krieg verlieren auch die Sieger, meint Daniela Dahn und durchdenkt unsere komplexe Welt
Ein Buch, das die Stimmung vieler trifft und sich nicht mit Schwarz-Weiß-Bildern zufrieden gibt. Das weit über den Ukraine-Konflikt hinausweist, die Augen öffnet für historische und geopolitische Zusammenhänge. »Der Krieg, so nicht mehr für möglich gehalten, blamiert unsere Gewissheiten, offenbart unseren Gleichmut, entlarvt unser Halbwissen, belegt unsere Ohnmacht, spottet jeder Beschreibung.« Daniela Dahn versteht sich auf starke Sätze, und sie verhehlt ihre Betroffenheit nicht. Auch ich sage: Dieser Krieg geht durch meine Seele, bringt mich in einen Zwiespalt zwischen Gefühl und Verstand. Er spaltet unsere Welt und unser Land. Beim Schreiben hatte Daniela Dahn die mediale »Quasi-McCarthy-Stimmung« vor Augen, in der nur noch Bekenntnisse zählen: Gehörst du zu uns oder zu denen? Doch welche Meinungen auch kursieren, alle dürften sich im Wunsch nach Frieden einig sein. »Im Krieg verlieren auch die Sieger. Nur der Frieden kann gewonnen werden.« Die Frage ist nur, wie Frieden erreicht werden kann.
Dass dieses Buch aus einzelnen, zu verschiedenen Zeiten verfassten Texten besteht, mag auf den ersten Blick als Nachteil erscheinen. Beim Lesen wird man indes sehen, dass gerade dadurch eine faszinierende Vielschichtigkeit entsteht. Nicht nur, dass die Autorin in Kommentaren zu früheren Texten ihre Einsichten als etwas Gewachsenes vor Augen führt. Über den Ukraine-Krieg hinaus entsteht ein komplexes Bild der Welt, verdeutlichen sich historische Zusammenhänge. Wie war das mit dem Zerfall Jugoslawiens und dem Krieg auf dem Balkan? Was ging dem »Euromaidan« in Kiew voraus? Mit welchen Techniken werden Umstürze inszeniert? Sind Geflüchtete womöglich »das neue revolutionäre Subjekt«? Könnte die DDR eine Utopie sein, an die sich anknüpfen lässt?
Genaue Recherchen, interessante Fakten. Dass das Pentagon 27 000 PR-Spezialisten mit einem Jahresbudget von fünf Milliarden Dollar unterhält, wusste ich noch nicht. Auch nicht, dass Deutschland einen günstigeren Festpreis für Gas aus Russland hatte als andere Länder und am Export verdienen konnte. Die schon von Hitler begehrten ukrainischen Schwarzerdeböden gehören zu großen Teilen ausländischen Unternehmen, woran auch der IWF seinen Anteil hatte, der einen Kredit 2020 von der Lockerung des Verkaufsgesetzes für landwirtschaftliche Flächen abhängig machte. Dass zwei Drittel der Ukrainer dagegen waren, konnte daran nichts ändern. Und auf der Krim hatte es bereits 1991 ein Referendum für Unabhängigkeit gegeben. 1995 stürzten »ukrainische Spezialeinheiten die Regierung der sich für autonom haltenden Republik Krim« und erklärten die Verfassung für ungültig. Ein Freundschaftsvertrag zwischen Russland und der Ukraine 1997 brachte Entspannung. »Doch der Maidan kippte auch diesen Vertrag.«
Das Buch führt einem einmal mehr vor Augen, wie lange der Ukraine-Konflikt schon schwelt, das Land zu einem »Anti-Russland« gemacht wurde, »im Geist des US-Geostrategen Zbigniew Brzeziński: Ohne die Ukraine hört Russland auf, eine Großmacht zu sein«. Die Nato, »einst zum Abwehrkampf gegen die Sowjetunion gegründet«, hätte nach der Auflösung des Warschauer Pakts eigentlich keine Existenzberechtigung mehr gehabt. Eine europäische Sicherheitsordnung unter Einbeziehung Russlands war ein Gebot der Stunde. Ein starkes, unabhängiges Europa lag freilich nicht im Interesse der USA.
»Deeskalation jetzt! Dem Schutz der Bevölkerung Vorrang einräumen!« – als Mitunterzeichnerin dieses ersten offenen Briefes an Bundeskanzler Scholz, veröffentlicht am 22. April in der »Berliner Zeitung« setzt sich Daniel Dahn in einem glänzenden Text zu Beginn des Bandes mit einer Gegenerklärung des ukrainischen Schriftstellers Serhij Zhadan auseinander, was umso interessanter ist, weil dessen Argumente für westliche Waffenlieferungen auch in deutschen Medien dominieren.
Im Februar, März hatte es bekanntlich schon einmal russisch-ukrainische Verhandlungen gegeben, eine Übereinkunft war in greifbare Nähe gerückt. Da reiste der britische Premier Boris Johnson nach Kiew. »Während seiner Auszeichnung mit dem ›Freiheitsorden‹ beschwor er eine ›weltweite Allianz‹ zur militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung der Ukraine … Das Vereinigte Königreich ist mit euch und wird mit euch sein, bis ihr siegt‹.«
Kein »schlechtes Friedensabkommen mit Russland« – der Ruf wurde medial aufgegriffen. Wie aggressiv das gerade aus Deutschland klang, musste in Russland als besonders demütigend empfunden werden. Man hatte den Deutschen vergeben, dass sie im Zweiten Weltkrieg »die Russen versklaven und vernichten wollten«, hatte ihnen sogar die Einheit ermöglicht. »Die Phase der Ostpolitik von Egon Bahr und Willy Brandt war wohl die einzige in der Geschichte der Bundesrepublik, in der die Hand zur Versöhnung wirklich angenommen wurde – zum Nutzen beider Seiten. Zuvor und danach lugte das tief sitzende Feindbild keck aus den Knopflöchern der neuen Gewänder.«
Wie es zum Frieden in der Ukraine kommen soll, wenn Präsident Selenskyj, unterstützt von westlicher Militärhilfe, auf militärischen Sieg setzt und Putin dies mit allen Mitteln verhindern will, diese Frage wird momentan wohl niemand beantworten können. »Wir haben jetzt die Aufgabe, der Ukraine bei ihrer Verteidigung beständig zu helfen, in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren«, sagte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin auf dem Treffen der »Ramstein-Gruppe« im Oktober.
Wenn dieser Krieg Geschichte sein wird, in was für einer Welt werden wir leben? Ob der Westen mit den USA an der Spitze weiterhin dominieren darf oder mit anderen Mächten auf Augenhöhe agieren muss. In diesem Bestreben ist Russland keineswegs international isoliert. Ob eine multipolare Welt aber friedlicher ist? Dass im Krieg auch die Sieger verlieren, damit hat Daniela Dahn wohl recht. Auf beiden Seiten werden Wunden bleiben, Zorn, Vergeltungslust. Der Osten Europas wird nicht wirklich zur Ruhe kommen. Und der Westen wird weiter unter den Folgen des Wirtschaftskrieges leiden.
»Es wird so lange Kriege geben, solange es noch einen Menschen gibt, der daran verdient«, heißt es bei Bertolt Brecht. »Frieden muss ein besseres Geschäft sein als Krieg«, meint Daniela Dahn. Wie sie zu Beginn des Buches ihre Vorstellungen von einem friedlichen Leben beschreibt, würde eine grundlegende »Zeitenwende« erfordern, weg vom profitorientierten Imperialismus, hin zu einem »planetarischen Bewusstsein«, wie Tschingis Aitmatow es nannte, der in seinem Roman »Der Tag zieht den Jahrhundertweg« solch eine Utopie auf den Planeten »Waldesbrust« verlegte. Was indes schon heute nottut: »Die Sehnsucht nach Frieden aus ihrem Traummodus Schritt für Schritt in eine reale Kraft« zu verwandeln. »Wir sind verdammt, uns zu vertragen.«
Daniela Dahn: Im Krieg verlieren auch die Sieger. Nur der Frieden kann gewonnen werden. Rowohlt, 218 S., br., 16 €. nd-Literatursalon mit Daniela Dahn am 7. 12., 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin.
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