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Solidarität mit der Ukraine verlangt nach nüchterner Analyse
Dieter Segert über die Entscheidung des Bundestags, die ukrainische Hungerkatastrophe Holodomor als Völkermord einzustufen
Der Deutsche Bundestag hat in dieser Woche mit großer Mehrheit eine Resolution verabschiedet, in der die Hungersnot in der Sowjetunion 1931 bis 1934 als Völkermord an den Ukrainern gekennzeichnet wurde.
Wie in einem Schreiben des Osteuropa-Historikers Martin Schulze-Wessel vom Januar 2022 an den Petitionsausschuss des Bundestages formuliert wurde, ist die Einschätzung, ob es sich bei dieser durch die sowjetische Führung verursachten Hungersnot um einen Genozid handelt, »eine politische Entscheidung«, aber keine unumstrittene wissenschaftliche Position. Damals sind in der Sowjetunion acht bis neun Millionen Menschen verhungert, etwa die Hälfte davon in der Ukraine. Es gibt also gute Gründe, sich mit den Ursachen jener Verbrechen zu beschäftigen. Allerdings stellt sich die Frage, ob sich das deutsche Parlament damit beschäftigen muss und warum es das gerade jetzt tut.
Schulze-Wessel ist der Vorsitzende der Deutschen Sektion einer Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission. Sie wurde 2015 ins Leben gerufen mit dem Ziel, »die Verbindungen zwischen der deutschen und ukrainischen Geschichtswissenschaft zu vertiefen und die Verbreitung von Wissen über die deutsche und ukrainische Geschichte wechselseitig zu befördern«. Solche gegenseitige Kenntnisnahme tut not, besonders zwischen Deutschland und Osteuropa mit ihrer langen Konfliktgeschichte. In dem Schreiben an den Petitionsausschuss des Bundestages erinnert Schulze-Wessel daran, dass es politisch angebracht wäre, sich zuerst mit den von Deutschland historisch begangenen Massenverbrechen zu beschäftigen, die genozidalen Charakter tragen.
Ist das, was im Januar 2022 richtig war, heute (nach Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine) nicht mehr richtig?
Das historische Verbrechen eines für politische Zwecke – die beschleunigte Industrialisierung – verursachten Hungertods von Millionen Menschen darf nicht vergessen werden. Allerdings erschwert die Bezeichnung Holodomor eine nüchterne Analyse dieser Verbrechen, denn sie erinnert zumindest lautmalerisch an Holocaust. Und das ist auch beabsichtigt. Dadurch soll eine Parallele zwischen Hitlers Politik der gezielten Auslöschung der europäischen Juden und der Stalin’schen Politik gegenüber der Ukraine konstruiert werden. Und analog zum strafrechtlichen Verbot in Deutschland, den Mord an den Juden zu leugnen, steht auch in der Ukraine seit 2006 die öffentliche Leugnung des Holodomor in den Jahren 1931 bis 1934 unter Strafe.
Mit ihrer Geschichtspolitik zielt die ukrainische Führung darauf, jede Einbindung des Landes in die sowjetische Geschichte zu negieren. Gemeinsame Feiertage wurden gestrichen; geografische Namen, die an die sowjetische Geschichte erinnern, wurden durch ukrainische Bezeichnungen ersetzt. Darüber hinaus soll der nicht geringe Teil der Ukrainer, der sich der russischen Kultur verbunden fühlt, sich davon verabschieden, indem der öffentliche Gebrauch der russischen Sprache untersagt oder zumindest erschwert wird, Denkmäler für Schriftsteller wie Puschkin oder Bulgakow abmontiert werden.
Angesichts des russischen Angriffskrieges erscheint das manchem als nachvollziehbar. Es bleibt aber eine nationalistische Interpretation der eigenen Geschichte: Aus dem historischen Gedächtnis soll gestrichen werden, dass Ukrainer an der sowjetischen Geschichte, an ihren hellen wie auch an den dunklen Seiten, beteiligt gewesen waren.
Diese nationalistische Interpretation der Geschichte ist vor allem für die Ukraine selbst problematisch. Eine Übernahme dieses Deutungsmusters durch die deutsche Politik ist es aus anderen Gründen. Die Ukraine ist Opfer des russischen Angriffs seit dem 24. Februar. Unsere Unterstützung ihres Verteidigungskampfes sollte aber nicht mit zweifelhaften Argumenten über ein historisches soziales Verbrechen begründet werden. Zu den gleichfalls problematischen Begründungen zählt die Behauptung, die Ukraine sei heute ein gefestigtes demokratisches Land. Jedoch gehören Korruption und Nationalismus zu ihrer Realität. Diese Realität zur Kenntnis zu nehmen ist besonders wichtig angesichts der gewünschten Mitgliedschaft des Landes in der EU.
Mir scheint, dass es keinem hilft, wenn mit grobem Stift Hitler mit Stalin, Stalin mit Putin gleichgesetzt werden. Die damaligen Verbrechen haben eine andere Ursache als die heutigen. Der Wunsch nach Solidarität darf nicht die nüchterne Analyse verdrängen.
Dieter Segert ist Politikwissenschaftler und Osteuropa-Experte. Er hatte Professuren an der Humboldt-Universität Berlin und der Universität Wien, lehrte auch in Prag, Bath und Frankfurt (Oder). Zu seinen Publikationen gehört das Buch »Transformationen in Osteuropa im 20. Jahrhundert«.
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