- Politik
- Iran
Nichts zu feiern
Angebliche Auflösung der iranischen Sittenpolizei ohne Bestätigung. Iraner protestieren weiter
In mehreren Städten des Iran seien am Montag viele Läden geschlossen geblieben, berichten Aktivisten. Videos in sozialen Medien sollen geschlossene Geschäfte in Großstädten wie Teheran, Isfahan, Schiras, Sanandadsch, Ilam und Urmia zeigen. Vergangene Woche hatten iranische Aktivisten zu neuen landesweiten Protesten und Streiks aufgerufen. Die sogenannten 14-15-16-Proteste – die Zahlen sind das Datum im persischen Kalendermonat Azar – sollen bis Mittwoch dauern.
Derweil haben die Behörden die baldige Vollstreckung bereits verhängter Urteile gegen Demonstranten angekündigt. Justizchef Gholam-Hussein Mohseni-Edschehi sagte nach einem Bericht des Nachrichtenportals Etemad am Montag, mehrere Urteile seien vom Obersten Gerichtshof bereits bestätigt und würden auch »bald vollstreckt«.
In den Protestaufruf mischte sich am Wochenende eine unerwartete Nachricht, die seit Tagen in sozialen Netzwerken und westlichen Medien kursiert: »Iran löst die Sittenpolizei auf.« Die Nachricht wird eher im Ausland ernst genommen als im Iran. Am Samstag stellte ein Journalist dem iranischen Generalstaatsanwalt Mohammad Jafar Montazeri die Frage, warum die Sittenpolizei nicht mehr aktiv sei. Montazeri antwortete: »Die Sittenpolizei hat nichts mit der Justiz zu tun und ist von der Stelle eingestellt worden, wo sie gegründet worden war.« Die sogenannte Sittenpolizei, zuständige Behörde für die Umsetzung des Hijab-Gesetzes in der Öffentlichkeit, ist Teil der iranischen Polizeikräfte und begann ihre Arbeit 2006 unter Hardliner-Präsident Mahmud Ahmadinejad – gemäß einem Gesetz, das in den letzten Tagen der Regierung von Reformer-Präsident Mohammad Khatami abgeschlossen worden war. Der Oberste Rat der Kulturrevolution hatte das Gesetz verabschiedet, ein außerparlamentarisches, gesetzgebendes Organ, dessen Mitglieder direkt vom Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei ernannt werden.
Bisher gab es jedoch noch keine offizielle Bestätigung, dass die Sittenpolizei tatsächlich aufgelöst wird. Die den Reformern nahestehende Tageszeitung »Schargh« berichtete am Montag, dass der Sprecher der Teheraner Polizei die Auflösung der Sittenpolizei nicht bestätigt habe. Die Polizei werde sich diesbezüglich zu Wort melden, wenn die Zeit komme, so der Sprecher der Teheraner Polizei gegenüber »Schargh«. Die Reformer-Zeitung berichtet weiter, dass auch der Oberste Rat der Kulturrevolution sich geweigert habe, die Nachricht über die Auflösung der Sittenpolizei zu kommentieren. Die »Schargh«-Reporterin kommt so zu dem Schluss, dass die Sittenpolizei ein Ende gefunden habe, auch wenn dies noch nicht offiziell verkündet worden sei.
Viele Medien in den USA und Europa feiern die angebliche Auflösung dieser Einheit als den Erfolg der Protestierenden, die seit über zehn Wochen auf verschiedene Weisen Widerstand leisten. Die aktuelle Debatte rund um die Sittenpolizei wurde durch den Tod von Jina Mahsa Amini in Polizeigewahrsam ausgelöst. Die 22-jährige Kurdin wurde Mitte September in Teheran festgenommen und in die Zentrale der Sittenpolizei gebracht – wegen ihrer »nicht vorschriftsgemäßen Kleidung«. Nach drei Tagen kam sie in einem Krankenhaus ums Leben. Die Familie und Tausende Protestierende glauben, dass ihr in der Haft auf den Kopf geschlagen wurde. Darauf deuten Röntgenaufnahmen, Knochenbrüche, Blutungen und ein Hirnödem hin.
Auf die Frage, ob es tatsächlich etwas zu feiern gebe, antwortet die Sozialwissenschaftlerin Firoozeh Farvardin, die in Berlin zu Frauenbewegungen im Iran forscht: »Angenommen, dass die Sittenpolizei in der Tat aufgelöst wird: Hat es vor 2006, also vor Einführung dieser Spezialeinheit, keine Unterdrückung von Frauen gegeben wegen ihres Hijabs? Davor waren nur andere Institutionen dafür zuständig, die Frauen aufgrund ihrer Kleidung festzunehmen, zu verprügeln oder auszupeitschen.« Das Gesetz, das Frauen vorschreibe, nur mit Hijab in der Öffentlichkeit aufzutreten, gebe es seit 1983, sagt Farvardin. Wie es im Laufe der Jahre umgesetzt wurde, habe sich ständig geändert. Das ändere aber nichts am Hijab-Zwang im Iran.
Farvardin bestätigt gleichzeitig, dass die Sittenpolizei seit Wochen keine Präsenz auf den Straßen habe und praktisch suspendiert worden sei. Das liegt aber daran, dass die Polizei ihre Kräfte darauf konzentrieren muss, die Proteste niederzuschlagen. Die vage Nachricht von der »Auflösung« der Sittenpolizei sei eher eine Kommunikation nach außen, um zu zeigen, dass das Regime weiterhin reformfähig sei. Daher werde sie vor allem von den Reformern verbreitet.
Bereits seit der zweiten Woche der Proteste gehe es um viel mehr als die Abschaffung des Hijab-Zwangs, geschweige denn die Sittenpolizei, sagt die Soziologin Farvardin. Auch in Sache Frauenrechte habe die »Frau-Leben-Freiheit«-Bewegung weitere Forderungen, die über die Kleidungsfreiheit hinausgingen. Nichtsdestotrotz sei es beachtenswert, dass in vielen Großstädten der Hijab-Zwang seit Wochen nicht mehr durchgesetzt werde, sagt Farvardin. »Eine Frau erzählte mir letzte Woche, dass sie während ihrer viertägigen Reise keinen einzigen Moment Kopftuch getragen hat, auch nicht bei der Sicherheitskontrolle auf den Flughäfen.« Das ist durchaus als Erfolg dieser Bewegung anzuerkennen, jedoch nicht weil das Regime auf die Forderungen der Frauen eingeht, sondern als Leistung des ständigen Widerstands der Frauen.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.