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Ein 70-Meter-Schal gegen soziale Kälte
Cottbuser Sozialisten stricken für Kanzler Olaf Scholz und für mehr Entlastungsmaßnahmen
Die Ukrainerinnen, die sich bei der Tafel in Cottbus-Sachsendorf für drei Euro eine Tasche voll Lebensmittel holen, sprechen nur gebrochen Deutsch. Doch der Mitarbeiter, der sich am Schalter der Ausgabestelle die Berechtigungsscheine zeigen lässt und das Geld kassiert, ist Jahrgang 1985 und hatte in der Schule sieben Jahre Russisch. In dem Fach sei er nicht gut gewesen und von der komplizierten Grammatik ist ihm aus dem Unterricht nicht viel in Erinnerung geblieben. Doch für »paschalsta« (bitte), »sbassiba« (danke) und »do swidanija« (auf Wiedersehen) reicht es noch und auch für Auskünfte wie »sewodnija niet« (heute nicht) auf die Frage, ob dies oder jenes im Angebot sei.
Täglich außer montags ist die Ausgabestelle in der Dostojewskistraße geöffnet. Es gibt noch zwei andere in Cottbus. Betrieben werden alle drei vom Verein Albert-Schweitzer-Familienzentrum. Rund 20 000 Euro jährlich schieße die Stadtverwaltung zu, erklärt der Stadtverordnete Eberhard Richter (Linke). Auch vom Land Brandenburg gibt es Geld für die 43 Tafeln im Bundesland. 120 000 Euro aus Lottomitteln und 129 000 Euro aus dem Corona-Rettungsschirm.
Doch mit solchen Summen kommen die Tafeln nur noch schwer über die Runden. Die Menge der von Bäckereien und Geschäften gespendeten Lebensmittel reicht für die stark gestiegene Zahl der Bedürftigen nicht mehr aus. Neben Langzeitarbeitslosen sind das angesichts der Preisexplosion auch zunehmend Rentner und Studenten. Dazu kommen Flüchtlinge, in letzter Zeit vor allem aus der Ukraine. Allein die Ausgabestelle in Cottbus-Sachsendorf suchen täglich etwa 100 Menschen auf, dienstags sind es in der Regel 130, letzte Woche waren es sogar an einem Tag 150. Seit das Wintersemester läuft, sind es auch wieder mehr Studenten. Sie werden dienstags ab 14 Uhr bedient. Die Folge des Andrangs: Tafeln müssen Bedürftige abweisen oder Lebensmittel dazukaufen.
Der Bundestagsabgeordnete Christian Görke (Linke) nennt die Tafeln »das zweite Sozialamt«, weil die vom Staat gewährte Sozialhilfe nicht ausreicht. Görkes Ansicht nach sollte das Land Brandenburg die Tafeln nicht nur mit einmaligen Zuwendungen wie aus dem Corona-Rettungsschirm unterstützen, sondern eine regelmäßige Förderung aus dem Landeshaushalt beschließen – so wie Sachsen, dass seinen Tafeln jährlich 450 000 Euro zubillige.
Am Dienstag hilft Görke für zwei Stunden bei der Ausgabe der Lebensmittel in Cottbus-Sachsendorf. Mit einem »Juten Tach« betritt er um kurz vor 11 Uhr den Raum und streift sich eine Schürze über. Nach kurzer Einweisung bestückt der Politiker Tabletts mit Brot und je vier Stück Gebäck, legt auch noch von der Linken extra gefüllte Tüten dazu, solange der Vorrat reicht. 500 Euro aus dem Sozialfonds der Linksfraktion im Bundestag sind bereits an die Tafel überwiesen. Die Abgeordneten geben monatlich 230 Euro von ihren Diäten in diesen Fonds.
Acht Mitarbeiter und 40 Ehrenamtliche halten die Cottbuser Tafel am Leben. Zum Nikolaus verteilt Görke an die anwesenden Helfer Schokoladenweihnachtsmänner als Dankeschön für die wichtige Arbeit. Für die Bedürftigen hat seine Partei draußen an einem Infostand zwei Kisten mit Schals und Mützen mitgebracht – gestrickt von Ukrainerinnen, Syrerinnen und Afghaninnen im Frauenzentrum der Stadt. Die warme Kleidung wird gern genommen, vor allem von Ukrainerinnen, sodass die Kisten bereits nach kurzer Zeit fast leer sind.
In einer Ecke liegt aufgerollt ein 70 Meter langer Riesenschal, den Genossen und Sympathisanten der Cottbuser Linken seit September gestrickt haben. Es soll ein Schal gegen soziale Kälte sein. Er ist für Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gedacht und verbunden mit dem Wunsch, der Bund möge weitere Entlastungsmaßnahmen beschließen. Den Schal will Görke am Dienstag kommender Woche in Berlin an die Bundestagsabgeordnete Maja Wallstein (SPD) übergeben, die ihn an Olaf Scholz weiterreichen soll.
Die kleine Gefälligkeit glaubt Görke verdient zu haben. Immerhin trug er bei der Bundestagswahl 2021 dazu bei, dass Wallstein den Wahlkreis Cottbus/Spree-Neiße mit 1,9 Prozent Vorsprung vor Daniel Münschke von der AfD gewinnen konnte. Görke hatte seine eigenen Wahlplakate kurz vor der Abstimmung mit dem Hinweis »Zweitstimme« überkleben lassen. Ein Wink mit dem Zaunpfahl an seine Anhänger, die Erststimme für den Direktkandidaten nicht ihm selbst zu geben, sondern Maja Wallstein. Das funktionierte: Verglichen mit den Zweitstimmen hat Die Linke der SPD damit 1,2 Prozent ihrer Erststimmen überlassen. Heide Schinowsky (Grüne) handelte ähnlich und schenkte Maja Wallstein damit den Sieg.
Der Schal für den Kanzler ist so gefertigt, dass er mit geringem Aufwand in gut 40 einzelne Schals zerlegt werden könnte. »Wir vermuten mal, dass Olaf Scholz keinen Eigenbedarf hat«, erklärt der Linke-Kreisvorsitzende Christopher Neumann. Scholz könnte den Schal beispielsweise an die Berliner Kältehilfe für Obdachlose spenden. Auch in Cottbus würden sie das Stück für einen sozialen Zweck zurücknehmen, versichert Neumann. Mit 70 Metern hat der Riesenschal seine endgültige Länge nicht erreicht. In anderen Teilen Brandenburgs haben andere Genossen weitere Abschnitte gestrickt, die noch angefügt werden sollen. Beteiligt hat sich auch die Linke-Landesvorsitzende Katharina Slanina.
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