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Immer auf dem Sprung

Coming of Age im Bonapartismus: Bitte unbedingt Jules Vallès wiederentdecken – mit dem zweiten Band seiner Trilogie »Jacques Vingtras«

  • Enno Stahl
  • Lesedauer: 5 Min.
Soll man sich umbringen, bloß weil man sich weigert, eine Karriere anzufangen? Auf gar keinen Fall! Deshalb hat Jules Vallès Bücher geschrieben und Revolution gemacht.
Soll man sich umbringen, bloß weil man sich weigert, eine Karriere anzufangen? Auf gar keinen Fall! Deshalb hat Jules Vallès Bücher geschrieben und Revolution gemacht.

Was für ein Typ, dieser Vallès! In kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, extremer Gewalt, besonders seitens der Mutter ausgesetzt, die Tortur der französischen Gymnasialerziehung hinter sich gebracht – doch dann nichts daraus gemacht. Keine Karriere in irgendeinem Amt. Stattdessen verbummelte er seine Zeit als Bohemien in Paris, immer auf dem Sprung zur Rebellion, zur Revolution. Er arbeitete als Schriftsteller, als Herausgeber kurzlebiger Zeitschriften, bis nach dem Sturz von Napoleon III. die Zeichen auf den Aufstand wiesen – er führte ein Bataillon der Nationalgarde und wurde zum Mitglied der Pariser Kommune gewählt. Nach deren Niederschlagung floh er nach London. Nach Frankreich, wo er in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde, kehrte er erst nach einer Generalamnestie 1880 zurück. 1885 starb er bereits, gerade einmal 53 Jahre alt, seinem Sarg folgten 10 000 Menschen.

Er veröffentlichte eine Reihe von Büchern, am bedeutendsten ist wohl die Trilogie »Jacques Vingtras«, die stark autobiografisch geprägt ist. Der erste Band »Das Kind« ist seiner quälenden Jugend gewidmet. Er erschien letztes Jahr als deutsche Neuauflage im März Verlag, jetzt folgte ebendort der zweite Band »Die Bildung«. Erzählungen über schwere Kindheiten, über spezifische Coming-of-Age-Problematiken sind nun alles andere als rar. Aber wie Vallès das macht, ist absolut einzigartig. Mit seinem schnoddrig-abgerissenen, mal gehetzt-fragmentarischen, mal fließenden Stil steht er in der Entstehungszeit der Bücher (1879–1885) komplett allein. Wenn man Vallès liest, begreift man plötzlich, dass Céline keineswegs ein reiner Solitär war, eine ästhetische Erscheinung aus dem Nichts, sondern dass auch er auf den Schultern eines Anderen stand, und dieser Andere heißt Vallès, der zum Glück kein Faschist war wie Céline, sondern ein Kämpfer für die Entrechteten, für die Armen und Elenden gegen das saturierte Bürgertum.

In diesem zweiten Band beginnt für Jacques Vingtras, Vallès’ Alter Ego, ein neues Leben, er hat die Enge der Provinz hinter sich gelassen und lebt nun in Paris: »Ich verlasse den Hof: ich bummele … Schlächterwagen fahren im Galopp vorbei: die Pferde haben feurige Nüstern; das Blechzeug an den Milchwagen hüpft über das Pflaster. Arbeiter kommen und gehen, ein Stück Brot und ihr Handwerkszeug in ihre Blusen gerollt; ein paar Läden machen die Augen auf, Küster erscheinen auf den Kirchenstufen, große Schlüssel in der Hand; Gehröcke tauchen auf.« Er stürzt sich in das Großstadtleben, er weigert sich, etwa zu studieren oder eine Karriere anzustreben. Doch schon bald greifen Armut und Hunger ihn an. Sie werden seine ständigen Begleiter.

Er versucht sich in allen möglichen Jobs, geht auf eine Odyssee durch seltsamste Etablissements des privaten französischen Bildungswesens, um ein Auskommen zu finden – unter grausamsten Bedingungen, erbärmlich bezahlt, kaum genug, um dem Hungertod zu entrinnen. Er tritt auf dem Jahrmarkt als Fußkämpfer auf, leiht sich überall eine Garderobe zusammen, um bei besseren Familien den Hauslehrer zu mimen, schreibt Schmähgedichte, Sonette und Gags als Auftragsdichter. Aber er verliert alle diese Stellen aus dem einen oder anderen Grund, findet sich immer wieder am Boden. Dennoch verliert er fast nie den Mut, bleibt störrisch und unbeugsam, und als ein halbherziger Aufstand gegen den Staatstreich von Louis Bonaparte losbricht, steht er an vorderster Front.

Voller Hass erlebt er die Diktatur des selbsternannten Kaisers, ist an konspirativen Vereinigungen beteiligt, ohne dass allzu viel daraus wird. Die Armut hingegen begleitet ihn auf Schritt und Tritt. Zunächst begegnet er ihr stoisch und nicht ohne Selbstironie, doch der Tenor des Buches ändert sich im weiteren Verlauf. Die Ausweglosigkeit seiner Situation wird unübersehbar. Er reist zu seiner Mutter und erwägt, sich in eine vorteilhafte Ehe zu retten – bis die Erwählte sich abfällig über die Armen äußert. Damit ist für ihn klar, daraus wird nichts: »Mich könnte nur eine Frau lieben, die Revolutionär wäre wie ich.«

Immer hoffnungsloser wird seine Lage. Als wäre dies eine Chance, stürzt er sich in ein verzweifeltes Duell mit seinem Mitbewohner, der genauso arm dran ist wie er selbst. Halsstarrig, unsinnig, und doch scheint es ihm von Bedeutung: »Es ist der erste stolze Morgen in meinem Leben, das bisher immer gedemütigt und duldend war: Lohnt es sich, es so noch lange fortzuführen, um im Schwachsinn weißhaariger Irrer zu enden? … Dann lieber schnell in einen tollkühnen Tod verschwinden.« Er überlebt, verletzt den Gegner schwer, womöglich tödlich.

Der kurze Triumph weicht der Agonie. Er treibt sich herum, Tag für Tag, in den Arkaden des Odéon-Theaters, um an den Buchständen die Neuigkeiten zu durchstöbern oder in Bibliotheken, um sich aufzuwärmen. Er hat kaum Geld, um etwas zu essen oder sich in ein Café zu setzen. Dann stirbt sein Vater, den er zwischenzeitlich so sehr gehasst hat. Das gibt den Ausschlag dafür, dass er sich ergibt. Er wird Hilfslehrer, erzählt man sich unter den Angestellten des Odéon. Und damit löst sich die Geschichte Vingtras’ von der seines Autors Vallès, der nämlich Sekretär eines Schriftstellers wurde und wenig später selbst zu publizieren begann. Sicher wird darüber der nächste, der dritte und letzte Band der Trilogie Aufschluss geben, »Die Revolte«, der wohl die vollgültige Ausprägung Vallès zum Revolutionär nachzeichnet.

Jules Vallés: Jacques Vingtras, Band 2: Die Bildung. A.d. Franz. v. Christa Hunscha, März Verlag, 377 S., geb., 26 €

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