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Kriminell oder ahnungslos?
Im Prozess gegen Ex-Wirecard-Chef Markus Braun geht es um den Vorwurf des bandenmäßigen Betrugs
Markus Braun sitzt seit mittlerweile zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft. Nie zuvor musste ein ehemaliger Vorstandsvorsitzender eines Dax-Konzerns eine solch lange Zeit hinter Gittern verbringen. Vor wenigen Tagen wurde der 53-jährige frühere Wirecard-Chef in die berühmte Münchner Justizvollzugsanstalt Stadelheim verlegt. Am Landgericht der bayerischen Landeshauptstadt beginnt am Donnerstag einer der spektakulärsten Strafprozesse in der bundesdeutschen Wirtschaftsgeschichte.
Das Landgericht München I hat zunächst 100 Verhandlungstage anberaumt, die Termine reichen bis in das Jahr 2024. Die 474 Seiten umfassende Anklage beschuldigt neben Braun noch den früheren Chefprokuristen und den Geschäftsführer eines Partnerunternehmens in Dubai. Laut Staatsanwaltschaft habe das Trio systematisch darauf hingearbeitet, dass Wirecard als erfolgreiches Technologieunternehmen wahrgenommen wurde und sich dabei frei erfundener geschäftlicher Aktivitäten bedient. Die Anklage lautet auf gewerbsmäßigen Bandenbetrug, Untreue, Marktmanipulation und unrichtige Darstellung. Allein für den gewerbsmäßigen Bandenbetrug als Hauptanklagepunkt drohen bis zu zehn Jahre Haft.
Wirecard war aus der 1999 gegründeten EBS-Holding hervorgegangen, die unter anderem den Zahlungsverkehr für Pornowebseiten und Online-Glückspiele abwickelte. Bei diesem Unternehmen, das inmitten der Euphorie der »New Economy« gegründet und mit dem Platzen der Dotcom-Blase um die Jahrtausendwende in Schieflage geraten war, trat Braun im Herbst 2000 zunächst als Krisenmanager an. »Mit an Verbissenheit grenzendem Eifer legte er sich ins Zeug. Reiste pro Jahr an die 600 000 Flugmeilen um die Welt, besorgte Kapital und Kunden«, beschrieb das »Manager-Magazin« Brauns Arbeitspensum. Mit dem er das bald börsennotierte Unternehmen wieder auf Kurs brachte und dessen Aktienkurs von 2013 bis 2018 verachtfachte.
Es folgte der überraschende Aufstieg der Wirecard AG mit Sitz im bayerischen Aschheim in den Deutschen Aktienindex, in dem sich die Schwergewichte unter den hiesigen Aktiengesellschaften tummeln. Der Zahlungsabwickler wurde in Politik und Medien als Antwort auf Apple und Amazon gefeiert, der gebürtige Wiener Braun als der »österreichische Steve Jobs«. Dazu trug der medienscheue Manager seinen Teil mit bei, indem er Wirecard von seinen Marketingstrategen als einen Technologieriesen anpreisen ließ, der den globalen Zahlungsverkehr revolutioniere.
Dabei war das Geschäftsmodell im Kern simpel. Es bestand in der Abwicklung von Kreditkartenzahlungen im Internet. Als sogenannter Acquirer (engl.: Erwerber) stand Wirecard zwischen Händlern und Käufern, wickelte deren Bezahlvorgänge ab und erhielt dafür Provisionen. Zu den Kunden zählten erste Adressen wie Aldi, Google oder Ikea.
In Ländern, in denen Wirecard keine Lizenz von den Aufsichtsbehörden besaß, stützte es sich auf Third Party Acquirer. Diese Schatten-Partner zahlten ihre Provisionen angeblich auf ein Treuhandkonto in Singapur ein. Im Juni 2020 musste der Vorstand eingestehen, dass 1,9 Milliarden Euro auf dem Konto fehlten. Ob die Gelder dort jemals eingezahlt wurden oder alles ein großer Bluff war, um Investoren zu täuschen, darüber muss nun das Gericht unter dem Vorsitzenden Richter Markus Födisch entscheiden.
Brauns Verteidigungsstrategie läuft, soweit bekannt, darauf hinaus, dass er an sein Geschäftsmodell geglaubt und von finsteren Machenschaften nichts gewusst habe. Als Buhmann wird der für das Singapur-Konto zuständige frühere Vertriebsvorstand Jan Marsalek präsentiert, der auf der Flucht vor den Strafverfolgungsbehörden ist.
Viele haben sich mittlerweile intensiv mit dem Wirecard-Skandal beschäftigt. Jörn Leogrande, der als Werbetexter lange in Brauns Marketingabteilung arbeitete, schreibt in seinem Buch »Bad Company«, Braun sei entweder »der dümmste CEO aller Zeiten«, da er als Vorstandsvorsitzender nicht wusste, woher 75 Prozent der gesamten Wirecard-Umsätze herkamen. Oder er sei ein Gangster, der an einem bandenmäßigen Betrug beteiligt war.
Zunächst meldete Wirecard im Juni 2020 Insolvenz an, nachdem der Fehlbetrag über 1,9 Milliarden Euro und weitere Finanzlöcher ruchbar geworden und nicht zu stopfen waren. Der Vorstandsvorsitzende Braun trat zurück, wurde angeklagt und verhaftet. Zuvor war er von seiner Villa in Wien nach Deutschland zurückgekehrt, um sich den Behörden zu stellen. Wirecard wurde abgewickelt.
Der als KPMG-Berater gestartete, promovierte Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler war lange sogar von Regierungsmitgliedern in Berlin und Wien hofiert worden. Kanzlerin Angela Merkel hatte noch 2019 in China für den geplanten Markteintritt des Konzerns in der Volksrepublik geworben. Der damalige Finanzminister Olaf Scholz musste sich Fragen gefallen lassen, warum die Aufsichtsbehörden nicht früher dem Verdacht über Milliarden-Betrügereien bei dem Finanzdienstleister nachgegangen seien. Bereits seit 2010 gab es wiederholt Gerüchte über Geldwäsche oder fehlerhafte Bilanzen. Die Bundesregierung entschloss sich zu einem politischen Bauernopfer und wechselte den Chef der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht aus. Schließlich hatte zum Wirecard-Imperium auch eine Bank mit deutscher Lizenz gehört, die nicht richtig beaufsichtigt worden war.
Als technologisches Vorzeigeunternehmen war Wirecard weitgehend unbehelligt in den Dax aufgestiegen. Anders als die hochregulierten Banken und Versicherungen spielen Finanzdienstleister in einer anderen Liga. Der Wirecard-Fall dürfte auch bei der jüngsten Warnung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich im Hintergrund mitgespielt haben. In ihrem am Montag veröffentlichten Quartalsbericht warnte die Zentralbank der Zentralbanken vor den Risiken für die Finanzmärkte durch kaum regulierte »Schattenbanken«, die täglich Billionenbeträge weltweit hin- und herschieben. Die treiben auch nach dem Ende von Wirecard weiter ihr Unwesen.
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