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Das Phantom der Wirecard-Oper
Jan Marsalek, einer der Hauptfiguren im Betrugsskandal, bleibt für die Behörden unauffindbar – angeblich
Man stelle sich vor: Zum Beginn des Wirecard-Prozesses geht ein Justizbediensteter zur Richterbank und flüstert dem Vorsitzenden ins Ohr: »Draußen steht ein Herr Marsalek, er will aussagen.« Staatsanwalt Matthias Bühring könnte seine Anklage in die Tonne treten, und Starverteidiger Alfred Dierlamm müsste sich etwas einfallen lassen, um im einträglichen Justizgeschäft zu bleiben. Und der Prozess? Der bislang angeklagte Milliardenbetrug wäre vielleicht ein Randthema.
Schade, dass sich solche Fantasien so selten realisieren. Zweieinhalb Jahre nach der Pleite des Finanzkonzerns Wirecard fehlt vom ehemaligen Finanzvorstand Jan Marsalek jede Spur. Heißt es zumindest. Wer ist der 42-jährige, stets elegant und weltgewandt auftretende Ex-Manager eigentlich wirklich? Seine persönliche Assistentin Sabine H. gab vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss zu Protokoll: »Ich weiß nichts über ihn.«
Der gebürtige Wiener brach kurz vor dem Ablegen der Matura die Schule ab und gründete eine Computerfirma. Im Jahr 2000 heuerte er bei Wirecard an, eine von unzähligen nahezu unbedeutenden Internetfirmen. Die Inhaber verdienten ihr Geld durch ein Bezahlsystem für Pornoseiten und durch Online-Glücksspiele. Marsalek aber war überzeugt: Mit der Firma liegt ihm die Welt zu Füßen. Die »durchjettete« er alsbald, immer auf der Suche nach neuen Abenteuern.
Er knüpfte auffällig gute Kontakte in die Politik, aß mit Frankreichs damaligem Präsidenten Nicolas Sarkzoy zu Mittag und traf sich mit ukrainischen Oligarchen. In seiner Münchner Villa, sie liegt gleich ums Eck beim russischen Konsulat, hielt der feine Herr Hof. Es heißt, eine Libanon-Connection half ihm bei großangelegter Geldwäsche. Gute Kontakte unterhielt der Finanzjongleur zum österreichischen Bundesamt für Verfassungsschutz, zu FPÖ-Größen der Wiener Halbwelt und zu allerlei dubiosen Firmen, die oft über drei Ecken mit Russland verbandelt waren. »Mr. Alleskönner« bezahlte Detektive für intime Dossiers und prahlte damit, dass er im Nachtschrank die Formel für Nowitschok aufbewahre. Mit diesem Nervengift überraschten zu jener Zeit russische Geheimdienste unliebsame Gegner, die sich in westlicher Sicherheit glaubten. Marsalek behauptete auch, dass er gute Beziehungen zu russischen Wagner-Söldnern in Syrien und Libyen habe. Wahr oder falsch?
Für seine Kommunikation benutzte er zumeist den verschlüsselten Telegram-Dienst und zahlte lieber bar als mit Kreditkarte. Marsalek, der angeblich über mehrere Pässe, darunter zumindest einen mit Diplomatenvorzug, verfügte, mied auf seinen Geschäftsreisen die USA. Ohne jemals Gründe dafür zu benennen, fürchtete er dort offenbar Strafverfahren.
Als er schließlich im Juni 2020 bei Wirecard als Betrüger aufflog und entlassen wurde, verließ er Deutschland einen Tag später. Er täuschte eine Reise auf die Philippinen vor, charterte einen Privatjet, mit dem er vom österreichischen Klagenfurt über die estnische Hauptstadt Tallinn nach Minsk, die belarussische Hauptstadt, flog. Anschließend machte er sich angeblich auf nach Moskau.
Marsalek wird mit internationalem Haftbefehl gesucht. Die Münchner Staatsanwaltschaft wirft ihm Bilanzfälschung, Börsenmanipulation, besonders schwere Untreue und bandenmäßigen Betrug vor. Nicht jedoch geheimdienstliche Tätigkeit. Dabei liegt dieser Verdacht nahe. Es ist denkbar, dass Marsalek noch nach guter alter Art vom russischen Militärgeheimdienst GRU als Perspektivagent aufgebaut, mit Legenden versorgt und geleitet wurde. Dafür sprechen seine angeblich rund 60 Kurzbesuche in Moskau und vor allem seine Familiengeschichte: Marsaleks Vater war Geschäftsführer eines holzverarbeitenden Betriebes mit Beziehungen nach Russland. Der 2011 gestorbene Großvater Hans Maršálek war Kommunist und Widerstandskämpfer gegen die Nazis. Er organisierte Sabotageakte, man fasste und sperrte ihn ab 1942 ins KZ Mauthausen. Dort erlangte er eine Schlüsselposition in der Schreibstube. Nach der Befreiung arbeitete Maršálek als Kriminalpolizist im höheren Dienst für das Wiener Innenministerium. Als Chef der Gedenkstätte Mauthausen hatte er allerbeste internationale Kontakte. Wer sich einigermaßen im Wiener Nachkriegsagentendschungel auskennt, kann sich vorstellen, welchen Weg Opas Vorbild dem Enkel eröffnete.
Was auf den Datenbanken von Wirecard an legalem und illegalem Wissen gesammelt war, was er bei seinen Treffen mit einflussreichen Politikern und Wirtschaftsleuten erfahren hatte, das ist für geheime Dienste mehr als Geld wert. Umso fragwürdiger, dass deutsche Nachrichtendienste offenbar wenig Interesse am Fall Wirecard haben. Angeblich wurde dem BND vor Monaten bereits ein Treffen mit dem Gesuchten in Aussicht gestellt worden, doch der Auslandsnachrichtendienst witterte eine Falle und schickte keinen Vernehmer nach Moskau. Ob das stimmt, ist genauso ungewiss wie das Ergebnis von Recherchen der »Süddeutschen Zeitung« vor Wochen, wonach der Gesuchte – gut abgeschirmt – als German Bazhenov im Meyendorff-Villenviertel der russischen Hauptstadt wohnt. Als russischer Staatsbürger führe er ein sorgenfreies Leben, speise in den feinsten Moskauer Restaurants. Bevorzugen soll er das »La Marée« in der Malaja Grusinskaja.
Doch bei diesen Darstellungen ist Vorsicht geboten: Die angeblichen Fakten stammen vom Dossier Center, einer Internetplattform des russischen Ex-Oligarchen und Putin-Feindes Michail Chodorkowski. Vermutlich kann nur Jan Marsalek selbst für Aufklärung sorgen. Doch das ist reine Fantasie.
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