- OXI
- Globale Solidarität
Ist die Zukunft noch offen?
Alexander Behr hat ein Buch über globale Solidarität geschrieben, über den Pessimismus des Verstandes und den Optimismus des Willens
Viele Bücher mit Titeln, die einen gewissen Optimismus verbreiten, findet man in diesen Zeiten nicht. Es sei denn, es sind schreckliche Ratgeber, wie man in zehn Schritten reich werden oder seine Mitte finden kann. Was hat Sie zu dem Optimismus Ihres Buchtitels veranlasst, der die Machbarkeit von etwas verkündet, was wir gegenwärtig sehr vermissen?
Huch, es ist passiert, wir haben eine Wunschregierung, eine, die sich in den Koalitionsvertrag geschrieben hat, dass sie für eine ernst gemeinte Transformation steht. Eine Minderheitsregierung zwar, die sich für alle Themen Mehrheiten suchen muss, aber das kriegt sie schon hin. Ihr ist klar, dass die Sache mit der Klimakatastrophe längst passiert ist, es aber Möglichkeiten gibt, auf den richtigen Pfad einzuschwenken.
In der Weihnachtsausgabe fragen wir uns, was wäre, wenn die Politik zur Vernunft käme, die Gesellschaft sich einen Ruck gäbe, die internationalen Institutionen wirklich die Welt retten wollten und so ausgestattet wären, dass sie es können. Die Ausgabe kommt am 9. Dezember 2022 zu den Abonnent*innen, liegt am 10. Dezember für alle, die ein »nd.DieWoche«-Abo haben, exklusiv bei.
Ich habe geschrieben, Optimismus bedeutet nicht, dass etwas unter allen Umständen gut ausgeht, sondern dass solidarisches Handeln in jedem Fall wichtig ist. Egal, wie die Dinge ausgehen. Das ist auch für die eigene Würde wichtig. Auf eine Überwindung des Kapitalismus hinzuwirken, aber auch alle kleinen Schritte ernst zu nehmen. Ich halte es mit Antonio Gramsci: Pessimismus des Verstandes, aber Optimismus des Willens. Das ist wichtig, um weitermachen zu können. Und auch, um die eigenen Privilegien zu nutzen, sich ihrer aber jederzeit bewusst zu sein. Jean Ziegler, von dem ich viel gelernt habe, sagt es mir in jedem Gespräch: Es gibt andere Dramen. Ich kann die Möglichkeiten nutzen, die mir zur Verfügung stehen. Die Ressourcen – materielle und immaterielle –, um sie umzuverteilen. Das ist mein Anspruch, danach versuche ich, zu leben.
Gramsci hat ja auch diese Zustandsbeschreibung geprägt: »Die alte Welt liegt im Sterben, die neue Welt ist noch nicht geboren. Dies ist die Zeit der Monster!« Wir befinden uns in der Zuspitzung von allem oder in einem Vakuum. Sie schreiben viel darüber, dass wir per Design oder per Desaster in die neue, andere Zeit kommen können. Gegenwärtig spricht viel für Desaster, oder?
Die Zukunft ist in alle Richtungen offen. Das Buch hat einen stark appellativen Charakter und versucht, das kollektive Projekt zu skizzieren, das in der Lage ist, Veränderungen zum Besseren zu erreichen. Das müssen wir zu jedem historischen Zeitpunkt. Ich beziehe mich stark auf die Klimakämpfe. Und da kann man nur zu dem Schluss kommen, dass der Zustand der Welt dramatisch ist. Das 1,5-Grad-Limit scheint kaum mehr erreichbar. Auch 2 Grad nicht. Es sind sehr pessimistische, düstere Befunde, wissenschaftlich unterlegt. Aber da ich mich in erster Linie auf globale Solidarität beziehe, habe ich sehr stark die Genoss*innen im Globalen Süden, beispielsweise in Kolumbien, in Afghanistan, im Exil, im Blick, die unter viel schwierigeren Bedingungen kämpfen als ich. Ich kann dieses Interview geben, meine Ideen verteidigen, ein Buch schreiben und es wird veröffentlicht. Die meisten Aktivist*innen weltweit, die für eine umfassende sozial-ökologische Transformation kämpfen, können das nicht. Die würden für das, was wir hier tun können, ihr Leben riskieren. Deshalb sollten wir solidarische Strukturen aufbauen, um diejenigen zu unterstützen, die an anderen Orten der Welt dasselbe tun, aber viel größeren Gefahren ausgesetzt sind.
Die Adressierung der globalen Solidarität müsste demzufolge eindeutig an uns gehen. An uns Privilegierte.
Das kommt ganz darauf an: Je nachdem, wo wir uns befinden, mit welchen symbolischen oder materiellen Privilegien wir ausgestattet sind oder nicht, sind wir verpflichtet, uns für andere einzusetzen.
Es war wichtig, die Begrifflichkeit der imperialen Lebensweise in unser Bewusstsein zu bringen. Aber immer – wir reden hier für eine Wirtschaftszeitung miteinander –, wenn davon die Rede ist, denke ich: Es muss doch imperiale Produktionsweise heißen. Die Lebensweise folgt der Art und Weise, wie produziert wird.
Das ist absolut richtig. Ulrich Brand und Markus Wissen haben mit ihrem Buch »Imperiale Lebensweise« einen sehr wichtigen Begriff geprägt. Aber es muss vollständig heißen »imperiale Produktions- und Lebensweise«, das betonen auch die beiden Autoren immer wieder. Wir müssen die Vergesellschaftungsfrage stellen. Aber wir dürfen die Lebensweise nicht ausklammern, was die Sozialismen des 20. Jahrhunderts ja oft getan haben. Produktivkraftsteigerung stand absolut im Fokus. Das kann heute so nicht mehr gelten. Es braucht Degrowth, also Wachstumsrücknahme. Das adressiert sehr stark die Lebensweise. Oder anders formuliert: Es ist zutiefst unsolidarisch, an dieser Lebensweise festzuhalten: Automobilität mit SUVs, Billigflugreisen, billiges Fleisch, Gemüse aus Südspanien. Aber der entscheidende Hebel ist natürlich die Produktionsweise.
Die Funktionsweise des Universums struktureller Gewalt – damit beschäftigt sich das erste Kapitel. Schon der Begriff »Universum« klingt ziemlich übermächtig. Als bliebe einer nichts anderes übrig, als darin einen Platz als Staubkorn zu finden.
Das ist der Kapitalismus, der durchzieht alle Lebensbereiche und das ist strukturelle Gewalt. Wenn dagegen Widerstand geleistet wird, wird jedoch DAS als Gewalt denunziert. Aber die strukturelle Gewalt, die in den Produkten enthalten ist, in der Art und Weise, wie sie produziert werden und was produziert wird, das ist wesentlich. Die Produkte im Supermarkt sind stumm. Wir haben die Aufgabe, zu erzählen, welche Formen der Ausbeutung in den Waren stecken. Deshalb enthält das Buch auch ein Kapitel über Lieferkettengesetze und ein Kapitel über die Kämpfe von migrantischen Landarbeiter*innen in der Gemüseproduktion.
Was wir also beim Kauf einer Tafel Schokolade, in der die Arbeit von Kindern aus der Elfenbeinküste auf den Kakaoplantagen Westafrikas steckt, wissen sollten.
Richtig. Das sollten und müssen wir wissen. Aber ich versuche in dem Buch auch zu sagen: Nicht du kannst die Welt individuell verändern, indem du »richtig kaufst«. Unsere Forderungen müssen in Gesetze und Normen eingeschrieben werden. Und dafür braucht es soziale Kämpfe von unten, die das einfordern.
Es gibt einen Kompromiss für ein Lieferkettengesetz. Und wenn so eine halbtaugliche oder eher schlechte Regel da ist, passiert erst mal eine Weile nichts mehr.
Ich glaube, dass im Bereich der Lieferkettengesetze, aber auch der Klimaklagen in den nächsten Jahren viel passieren wird. Und gerade deshalb ist globale Solidarität notwendig. Es wird uns nicht gelingen, wirksame Lieferkettengesetze zu erkämpfen, wenn wir nicht starke solidarische Verbindungen zu den Gewerkschaften und Bewegungen im Globalen Süden knüpfen. Sei es nach Pakistan, Bangladesch oder Äthiopien. Die Selbstverpflichtungen der Konzerne, der Supermärkte bringen nichts. Wichtig sind die Gewerkschaften vor Ort.
Auch hier gilt, dass hierzulande oft an den Rändern der Gewerkschaften Menschen aktiv sind, die für diese globalen Themen offen sind. Die haben meist keinen leichten Stand. Wir müssen ihre Position stärken. Und sie können helfen, durch die Ressourcen, die ihnen in ihren Apparaten zur Verfügung stehen, die Bewegungen im Globalen Süden zu unterstützen. Als Verdi eine Kampagne gegen Lidl geführt hat, Mitte der nuller Jahre, haben wir gesagt: Es ist wichtig, nicht nur die Arbeitskämpfe in den Supermärkten zu unterstützen, wir müssen auch über die Produktionsbedingungen der Waren sprechen, die in dem Discounter verkauft werden. Wir brauchen Solidarisierung und Kontakte entlang der Wertschöpfungsketten.
Wenn wir mal kurz träumen dürfen: Brennt in Bangladesch eine Textilfabrik, mit Hunderten Toten, streiken in Deutschland bei Kik die Verkäufer*innen, weil sie das Zeug nicht mehr verkaufen wollen.
Genau. Es geht darum, die Möglichkeiten einer solidarischen Arbeitsteilung zwischen unterschiedlichen Akteur*innen auszuloten. Um der imperialen Produktions- und Lebensweise entgegenzutreten, sollten verschiedene emanzipatorische Strategien produktiv zusammenwirken: Basisbewegungen, Zivilgesellschaft und NGOs, Gewerkschaften, fortschrittliche religiöse Communitys, Journalist*innen, Kulturschaffende, Aktive an Universitäten und in progressiven Parteien können – bei aller Unterschiedlichkeit in der Wahl der Methoden und Ansätze – Synergien entwickeln und verlässliche Austausch- und Aktionsstrukturen schaffen. Dies ist oft unbequem und bringt häufig Konflikte mit sich. Doch gerade in der produktiven Austragung dieser Konflikte steckt großes Potenzial.
Stichwort Konversion – was nach einer allmählichen, sanften Art der Umwandlung, Transformation klingt. VW und BMW bauen Straßenbahnen und E-Busse und keine SUVs mehr. Das klingt für die Länder des Globalen Nordens, bislang die Gewinnerinnen noch jeder Krise, nach einem gangbaren Weg. Ist aber, so scheint es, nicht jenen abzuverlangen, die im Globalen Süden sozusagen auf Aufholjagd sind. Das jedoch zu Ende gedacht hieße, eine globale Krise kleinzureden, oder?
Wachstumsrücknahme und die Abkehr von extraktivistischer Produktionsweise sind ein Duo und müssen Hand in Hand gehen. Wenn wir hier die Kämpfe um Produktionskonversion und Wachstumsrücknahme ernst nehmen, verringert das den Druck auf die Ressourcenausbeutung im Globalen Süden. Wenn wir vom SUV wegkommen und kollektive Mobilität durchsetzen, nimmt der Druck auf Länder ab, die uns die Rohstoffe für die imperiale Lebensweise liefern.
Wir sollten dahingehend arbeiten, dass die Strategien verschiedener Akteur*innen sich wechselseitig stärken, in etwa: Die Klimabewegungen blockieren Produktionsstätten, Beschäftigte und Gewerkschaften entwickeln Alternativen. Gleichzeitig stärken wir Bewegungen gegen Extraktivismus im Globalen Süden, solidarisieren uns, verbünden uns. Solidarische Arbeitsteilung und ein produktives Zusammenwirken von Klimaaktivismus und Antirassismus sind dringender denn je.
Interessant ist Ihr Blick auf die Geschichte der Internationale(n) – ein kleiner Exkurs der Hoffnung und der Niederlagen. Dahinter die Frage, wie Sie formulieren, wann Solidarität global und universell ist. Man hätte ja vermuten können, dass mit stetiger Globalisierung – die immer gern damit beschrieben wird, dass alles irgendwie zusammenhängt und zusammenrückt – auch diese Form der Solidarität wächst. Das Gegenteil ist passiert. Wir können via Internet in alle Ecken der Welt schauen, in Echtzeit das Elend der anderen miterleben und es wird trotzdem immer weniger mit der Solidarität. Was passiert da?
Die klassischen Internationalen sind heute nicht mehr relevant. Manche endeten im Terror, wie die Komintern. Gleichzeitig gibt es andere »Internationalen«, wie die Sozialforen-Bewegung, die nach einem Bewegungszyklus in der Bedeutungslosigkeit verschwanden. Die große Frage ist, ob es nicht »zwei, drei, viele Internationalen« braucht, wie Boris Kanzleiter (Rosa-Luxemburg-Stiftung) in einem Text schrieb. Vielfalt der Bewegungen, Vielfalt der Internationalen. Die Frage ist, wie das Spannungsfeld gelöst wird zwischen Autonomie und Bewegung auf der einen und Institutionalisierung auf der anderen Seite.
Das beschreiben Sie als das Notwendige und zugleich extrem Schwierige: Aus der Bewegung in die Institutionalisierung zu kommen, ohne dass die Institution als starres Gebilde die Bewegung zerstört. Die Quadratur des Kreises. Auch die Internationalen waren Bürokratiemonster. Auf der anderen Seite sehen wir an Occupy und anderen Bewegungen: Das erschöpft sich irgendwann. Man ist wochenlang im Zelt, besetzt die Plätze und schafft es nicht, das zu verstetigen und zu festigen.
2019, die Klimabewegung, das war ein sehr starker Zyklus, der im Moment stillsteht, was auch mit der Pandemie zu tun hat. Aber klar, die Klimabewegung kann, muss sich internationalisieren. Ein anschauliches Beispiel ist die Kohle, die aus Kolumbien nach Deutschland exportiert wird – gegen die Zerstörung, die damit verbunden ist, braucht es globale Solidarität. Eine der eindrucksvollsten Aktionen, die in diese Richtung wiesen und an der ich teilgenommen habe, war das erste Klima- und antirassistische »Doppelcamp«, das im Sommer 2008 in Hamburg stattfand und an dessen Aktionen sich mehr als 2.500 Menschen beteiligten. Das Aktionscamp kombinierte zum ersten Mal bewusst klimapolitische und antirassistische Fragestellungen und brachte dadurch verschiedene Akteur*innen aus unterschiedlichen aktivistischen Milieus zusammen. Zu den gemeinsamen Aktionen gehörten die Abriegelung der Zufahrtsstraßen zum Hamburger Flughafen, die Besetzung der Baustelle des Kohlekraftwerks Moorburg oder die Blockade eines Supermarkts in der Hamburger Innenstadt. Motto des Camps war: »Für ein ganz anderes Klima – globale soziale Rechte für alle!«
Klima ist DAS übergreifende Thema. Aber die Debatten und die Kämpfe stocken meist an dem Punkt, wo man tatsächlich über Kapitalismus reden muss. Fridays for Future zeigt das sehr deutlich. Wir sind seit jeher fasziniert davon, dass das Kapital kein Problem damit hat, sich international aufzustellen, eine Internationale nach der anderen zu gründen und sich auf seine Art gegen die Mehrheit der Bevölkerungen zu solidarisieren. Wo also muss angesetzt werden?
Wenn Formen der friedlichen Sabotage und des zivilen Ungehorsams erprobt werden und andere versuchen, mit linken Wahlbündnissen und dem Druck der sozialen Bewegungen etwas grundlegend zu verändern und anders zu machen, dann liegt darin Hoffnung. All das kann auch immer scheitern: Linksregierungen, genauso wie Strategien auf der Straße. Aber es muss versucht werden.
Alexander Behr ist Politikwissenschaftler und Journalist, lehrt an Universitäten und Schulen und bei Gewerkschaften, ist vernetzt in sozialen Bewegungen, arbeitet in einem Netzwerk zur Unterstützung von Landarbeiter:innen in der Gemüseproduktion und gründete das Netzwerk »Afrique-Europe-Interact«. 2022 erschien im Oekom-Verlag sein Buch »Globale Solidarität. Wie wir die imperiale Lebensweise überwinden und die sozial-ökologische Transformation umsetzen«. Mit ihm sprach Kathrin Gerlof.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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