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Krieg beginnt vor der Haustür
Friedensratschlag Kassel diskutierte Chancen für künftige zivile Ordnung und Stärkung von Protesten gegen Aufrüstung
Der Andrang war groß im Philipp-Scheidemann-Haus in Kassel. Nach zwei Jahren, in denen man pandemiebedingt auf Online-Tagungen ausweichen musste, fand der traditionell in der nordhessischen Stadt abgehaltene Friedensratschlag am Wochenende erstmals wieder in Präsenz statt. »Unterwegs zu einer neuen Weltordnung – Weltkrieg oder Wende zur sozialökologischen Wende zum Frieden?« lautete die zentrale Frage der 29. Auflage der Tagung, zu der mehr als 350 Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet angereist waren. »Das Bedürfnis, sich direkt auszutauschen, war dieses Mal besonders groß«, bilanzierte Willi van Ooyen, langjähriger Friedensaktivist und Mitorganisator.
Die Analyse der weltpolitischen Lage stand ebenso im Vordergrund wie die Erörterung der Gründe dafür, dass aktuell nur wenige Menschen gegen die derzeit stattfindende beispiellose Aufrüstung hierzulande, aber auch international auf die Straße gehen. Dabei ist etwa die atomare Bedrohung momentan noch wesentlich akuter als in den 80er Jahren, als in der alten Bundesrepublik Hunderttausende gegen Aufrüstung demonstrierten. In Referaten und in Podiumsdiskussionen wurden die globale Umbruchsituation und das Entstehen einer neuen Weltordnung infolge des Ukraine-Kriegs debattiert. Auch über realistische Verhandlungslösungen im Ukraine-Krieg, die Aktionsfähigkeit der Uno und die Chancen für eine neue globale Friedensordnung wurde gesprochen.
Viele derer, die den Ratschlag seit Jahrzehnten organisieren, wurden in der Friedensbewegung der 80er politisiert, so auch Reiner Braun, der leidenschaftlich dafür warb, dass die Friedensbewegung wieder die Hegemonie bei den Protesten gegen Aufrüstung erringen müsse. In der letzten Zeit gibt es auch rechtsoffene Kundgebungen und Proteste gegen das 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine.
Mehrere Referent*innen gingen auf die globalen Folgen dieses Konflikts ein. Übereinstimmend betonten sie, dass es sich um einen Stellvertreterkrieg zwischen der Weltmacht USA und dem ebenso kapitalistischen Russland handele. Die Friedensbewegung solle für keine Seite Partei ergreifen, forderte Christin Bernhold. Vielmehr solle sie die Devise »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« zur Grundlage ihres Agierens machen. Das bedeute hierzulande, den Kampf gegen die Nato in den Mittelpunkt zu stellen.
Lühr Henken verlas den Vortrag des erkrankten Joachim Wernicke, der Vergleiche zwischen der Nachrüstung der frühen 80er Jahre und dem heutigen Aufrüstungsprogramm der EU und der Nato mit den USA als Führungsmacht zog. Damals wollten die USA Pershing-2-Raketen in Westeuropa stationieren, die das Territorium der Sowjetunion hätten erreichen können. Offiziell war die Stationierung die westliche Antwort auf die Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen in Osteuropa. Die Krise wurde damals durch den Start-II-Vertrag zwischen den USA und der Sowjetunion entschärft.
Wernicke sieht in der Annullierung des Start-II-Vertrags durch die US-Regierung unter Donald Trump 2019 eine Weichenstellung für den Beginn eines neuen Wettrüstens mit Mittelstreckenraketen. Auf westlicher Seite seien die Dark-Eagle-Raketen ein wichtiges Element in dieser Strategie. Allerdings ist die Diskussion über ihre Stationierung noch sehr verhalten. Die britische Zeitung »The Sun« veröffentlichte indes schon vor mehr als einem Jahr eine Grafik, in der eine Mittelstreckenrakete aus Deutschland Moskau in einem Blitzkrieg-Szenario angreift. »Die Rakete kann Russland in 21 Minuten und 30 Sekunden treffen«, titelte das Boulevardblatt reißerisch. Als Abflugort des »Dark Eagle«-Marschflugkörpers war das 56. US-Artilleriekommando in Mainz-Kastel angegeben.
Könnte die Gefahr der Stationierung solcher atomar bestückbarer Raketen der Friedensbewegung neue Impulse und vor allem mehr Zulauf bringen? Diese Hoffnung äußerten Teilnehmer*innen des Friedensratschlags. Die Ostermärsche im nächsten Jahr, die jetzt vorbereitet werden, könnten ein Indikator sein, ob dies gelingen kann.
Eine zentrale Frage wird dabei sein, ob es der traditionellen Friedensbewegung gelingt, engere Verbindungen zu jüngeren Kriegsgegner*innen zu knüpfen. Die organisieren seit etlichen Jahren Aktionen wie die jeweils mehrtägigen Camps unter dem Motto »Krieg beginnt hier«. Das letzte fand Anfang September statt – ebenfalls in Kassel. Denn in der Stadt befinden sich Fabriken der Rüstungskonzerne Rheinmetall Defence und Krauss-Maffei Wegmann. Den Camp-Teilnehmer*innen gelang es, für einige Stunden deren Produktion zu blockieren. Eine solche Fokussierung auf konkrete Profiteure von Rüstung und Krieg könnte die Grundlage für eine neue, kraftvollere Bewegung bilden.
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