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- Fußball-WM in Katar
Marokko symbolisiert den arabischen Aufbruch
Für Katar repräsentiert die WM die arabische Diaspora
Als die WM 2010 nach Katar vergeben wurde, war Nadim Rai 14 Jahre alt. Damals lebte er in der syrischen Stadt Latakia. Ein leidenschaftlicher Fußballfan, der sich besonders für die Bewegung der Ultras interessierte. Zwischen Latakia und Katars Hauptstadt Doha liegen fast 2500 Kilometer. Trotzdem betrachtete Nadim Rai die WM als große Chance für die ganze arabische Welt. Er träumte davon, eines der Spiele im Stadion zu erleben.
Zwölf Jahre später vertritt Nadim Rai eine andere Haltung. Er lebt inzwischen in Deutschland und ist ein gefragter Experte für den Fußball im Nahen Osten. »Nur wenige arabische Länder profitieren von dieser WM«, sagt er. »An den großen Bauprojekten in Katar haben vor allem Unternehmen aus europäischen Staaten mitgewirkt.« Als Beispiel nennt er das Al-Bayt-Stadion, dessen Dachkonstruktion einem traditionellen Beduinenzelt nachempfunden ist. »Dieses Stadion wurde nicht von arabischen Architekten entworfen, sondern von einer deutschen Firma.«
Die katarische Herrscherfamilie feiert die WM als historischen Aufbruch für die arabische Welt. Und die Nachrichtenbilder der vergangenen Tage scheinen ihr recht zu geben. Ob in Kairo, Tunis oder im Gazastreifen: In vielen arabisch geprägten Orten feierten Tausende Menschen den Einzug der marokkanischen Mannschaft ins WM-Halbfinale. Auch der katarische Emir Tamim bin Hamad al-Thani schwenkte eine marokkanische Fahne. Der Gastgeber sieht sich auch als Stellvertreter für die große Diaspora. Mehr als zwanzig Millionen Menschen arabischer Herkunft leben außerhalb der 22 arabischen Staaten. In Frankreich, dem Halbfinal-Gegner Marokkos am Mittwoch, sind es allein 3,5 Millionen. Geht die PR-Strategie Katars also auf?
Der in Syrien geborene Nadim Rai ist skeptisch. Er gehört in Deutschland zu den rund 1,5 Millionen Menschen arabischer Herkunft. Inzwischen besitzt er auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Nur deshalb konnte er im Dezember 2021 ohne Einschränkungen nach Katar reisen und dort den Arab Cup verfolgen, die WM-Generalprobe mit arabischen Nationalteams. »Ich gehe davon aus, dass es syrische oder etwa jemenitische Staatsbürger nach wie vor sehr schwer haben, nach Katar einzureisen«, sagt Rai. Die ganze arabische Welt scheint eben doch nicht am Golf willkommen zu sein. Nur Angehörige aus sechs der insgesamt 22 arabischen Staaten können visumsfrei ins Emirat einreisen.
Die arabische Diaspora ist vielfältig – in Deutschland und in anderen Ländern Europas. Der Erfolg der marokkanischen Mannschaft hat das wieder einmal sichtbar gemacht. Mehr als die Hälfte ihrer 26 Spieler wurde nicht in Marokko geboren, sondern in Frankreich oder Spanien, in Belgien oder Italien. Ihr Trainer Walid Regragui wuchs nahe Paris auf, ihr Torwart Yassine Bounou wurde im kanadischen Montreal geboren. Auch wegen dieser Leitfiguren feierten Tausende arabischstämmige Menschen in Paris, Brüssel oder Düsseldorf. »Sie erkennen sich in den Biografien wieder«, sagt der Journalist Maher Mezahi, der sich mit Fußball in Nordafrika befasst: »Der marokkanische Fußballverband ist gut organisiert und macht sich die Diaspora zunutze. Er hat einige Scouts in europäischen Ländern im Einsatz.«
Die Großeltern von Maher Mezahi stammen aus Algerien, er selbst ist in Kanada aufgewachsen. Mittlerweile lebt Mezahi in Marseille, im Süden Frankreichs. Seit Generationen wird wohl keine andere Stadt Europas so sehr durch Einwanderung aus arabischen Ländern geprägt. Maher Mezahi besucht regelmäßig Heimspiele von Olympique Marseille. Er sagt, dass sich die Vielfalt der Stadtgesellschaft im Stadion spiegeln würde. Fans schwenken mitunter algerische oder tunesische Flaggen. In Marseille werde zum Beispiel der Afrika-Tag begangen, berichtet Mezahi: »Dann gibt es eine Reihe von Veranstaltungen, die den afrikanischen Kontinent feiern. Olympique lädt dann auch frühere Spieler afrikanischer Herkunft ein.« Der Verein bietet in seinem Sortiment auch ein Trikot mit Afrika-Bezug an.
Doch es gibt auch eine andere Seite. Regelmäßig erfährt Maher Mezahi von arabischen Spielern und Fans in Frankreich, die sich diskriminiert fühlen. Wenn für Nationalteams aus dem Maghreb wichtige Länderspiele anstehen, erhöht die Polizei in französischen Städten mitunter ihre Straßenpräsenz. Am Mittwoch sollen in Paris rund 2000 Kräfte im Einsatz sein. Für viele Nordafrikaner ist Frankreich nicht nur der Weltmeister, sondern auch die ehemalige Kolonialmacht, die Millionen Menschen in Algerien, Tunesien oder Marokko unterdrückt hatte. Freundschaftsspiele gegen Frankreich gab es bislang kaum. Die Partie gegen Algerien 2001 im Pariser Stade de France musste nach einem Platzsturm algerischstämmiger Fans abgebrochen werden. Fälle wie diese legen rechtsextreme Politiker in Frankreich immer wieder als gescheiterte Integration aus.
Fußballprojekte für Annäherung gibt es im französischen Fußballverband kaum. Das sei in Deutschland anders, sagt Robert Chatterjee vom Nahost-Magazin Zenith: »Viele Menschen mit einem Fluchthintergrund sagen, dass ihnen gerade die deutsche Vereinskultur bei der Integration geholfen hat. Der Fußball war für sie das Einstiegstor in die deutsche Gesellschaft und in die deutsche Sprache.« Arabischstämmige Kicker spielen etwa in westdeutschen Großstädten eine beachtliche Rolle – doch arabischstämmige Trainer, Funktionäre oder Schiedsrichter sind auch hierzulande selten.
Dabei konnte sich die arabische Diaspora spätestens seit dem WM-Sieg 2014 zunehmend mit der deutschen Nationalmannschaft identifizieren. Das lag damals auch an Leistungsträgern wie Mesut Özil und Sami Khedira. Ob sich ihre Perspektive nun ändert? Schließlich kam die Kritik am ersten arabischen WM-Gastgeber vor allem aus Deutschland. »Lange blickten auch aus der arabischen Diaspora viele Menschen kritisch auf Katar, denn dort werden ja auch viele Araber als Bürger zweiter oder dritter Klasse behandelt«, sagt die Arabistin und Journalistin Dunja Ramadan, die für die »Süddeutsche Zeitung« aus Doha berichtet hat. »Doch jetzt schlägt die Wahrnehmung in etwas anderes um: Die geballte Kritik aus Europa wird in der Diaspora auch als unverhältnismäßige und teils rassistische Kritik wahrgenommen. Und deswegen beobachte ich in der Diaspora eher Solidarität mit Katar.«
Der Deutsche Fußball-Bund und seine Nationalteams sehen sich gern als Repräsentanz einer multikulturellen Gesellschaft. Aber das Verhältnis zu den verschiedenen Einwanderermilieus hat zuletzt stark gelitten. Es ist eines von vielen Problemen, für das der DFB bis zur heimischen Europameisterschaft 2024 glaubwürdige Antworten finden muss.
Lesen Sie alle unsere Beiträge zur Fußball-WM in Katar unter: dasnd.de/katar
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