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  • »Tagesspiegel«-Relaunch

Bloß niemanden verprellen

Der Berliner »Tagesspiegel« hat sich neu ausgerichtet – hält er, was er verspricht?

  • Johannes Reinhardt
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Tageszeitung ist tot, lang lebe die Tageszeitung! Es mutet zunächst anachronistisch an, dass der Berliner »Tagesspiegel« sich Ende November zwar komplett neu aufstellte, aber gleichwohl am Konzept gedruckte Tageszeitung festhielt. Während beispielsweise die »Taz« ebenfalls im November ihre neue Wochenendausgabe »Wochentaz« lancierte und perspektivisch plant, von Montag bis Freitag nur noch digital zu erscheinen, sich also im Printsegment als Wochenzeitung neu zu positionieren, bringt der »Tagesspiegel« weiterhin an sieben Wochentagen eine gedruckte Ausgabe auf den Markt.

Jedoch erscheint der »Tagesspiegel« nun im sogenannten Tabloid-Format, das etwa 24 Zentimeter in der Breite sowie 37 Zentimeter in der Höhe misst. Das Format eignet sich insbesondere zur Lektüre in der Bahn, weil man umblättern kann, ohne mit der Sitznachbarin ins Gehege zu kommen. Anfang der Nullerjahre galt das Tabloid-Format als ein Ausweg aus der bereits grassierenden Printkrise, weil die britische Tageszeitung »The Independent« nach der eigenen Umstellung auf Tabloid kurzfristig eine Auflagensteigerung von bis zu 30 Prozent feiern konnte. Andere europäische Zeitungen machten es ihr nach, zumeist mit geringem Erfolg. Hierzulande stellte unter anderem die »Frankfurter Rundschau« 2007 auf Tabloid um. Und »Die Welt« veröffentlichte zusätzlich zu ihrer großformatigen Ausgabe ab 2004 »Die Welt Kompakt« im Tabloid-Format, stellte diese jedoch im Zuge von Sparmaßnahmen 2019 wieder ein. Der Vorreiter »The Independent« erschien übrigens im März 2016 das letzte Mal mit einer auf Papier gedruckten Ausgabe und publiziert seitdem nur noch online.

Beim »Tagesspiegel« hat man im Rahmen des Relaunchs nicht nur die äußeren Maße gekürzt, auch die einzelnen Texte fallen nun knapper aus. Große Reportagen und Essays sollen entweder direkt online oder in der Sonntagsausgabe erscheinen. Das mag etwas verwundern, weil die von Montag bis Freitag veröffentlichten Ausgaben mit ihren zwei sogenannten Zeitungsbüchern aus jeweils 40 geklammerten Seiten an ein Magazin erinnern. Eines der Bücher widmet sich der Berichterstattung aus Berlin, das andere dem überregionalen Geschehen. Samstags kommt noch ein drittes Zeitungsbuch hinzu, das euphemistisch »Gut leben« heißt und »alles Wissenswerte über Immobilien, Finanzen, Job und Karriere sowie Reise und Mobilität« enthalten soll.

Der »Tagesspiegel« hat zudem seine Redaktion umgebaut beziehungsweise an die neue Aufmachung der Zeitung angepasst. Die Redakteur*innen sollen weniger Texte selber schreiben, stattdessen die Beiträge von »Expertinnen und Experten aus Hochschulen, Stiftungen und Thinktanks« sowie anderen freien Autor*innen »kuratieren«, womit man sicherlich hofft, einiges einsparen zu können (etwa weil die Schreibenden als »Expert*innen« außerhalb des Journalismus ihr Wissen kostenlos zur Verfügung stellen könnten). Gleiches gilt für die Wirtschaftsseiten, die größtenteils vom »Handelsblatt« bestückt werden sollen, das wie der »Tagesspiegel« dem Verleger Dieter von Holtzbrinck gehört. Auch wenn der Relaunch schon lange geplant war, kam er zu einem kritischen Zeitpunkt: Im dritten Quartal dieses Jahres sank die durchschnittlich verkaufte Auflage des »Tagesspiegel« unter 100.000 Exemplare.

Nichts weniger als die »Zeitung der Zukunft« habe man bei den Umstrukturierungen im Sinn gehabt, verlautbarten die Co-Chefredakteure des »Tagesspiegel«, Lorenz Maroldt und Christian Tretbar. Fortan wolle man »über die komplexen politischen, ökonomischen, ökologischen und finanziellen Verflechtungen unserer Welt so objektiv wie möglich informieren«, wobei man insbesondere auf »die Gegenüberstellung von Perspektiven« setze. Somit ist man beim »Tagesspiegel« überhaupt nicht aus der Zeit gefallen, sondern im Gegenteil genau auf der Höhe des vielbeschworenen Zeitgeists, wo man mit Nazis reden und auf die Ängste von Verschwörungsgläubigen eingehen soll – und Kritik nur geäußert werden darf, wenn sie konstruktiv ist. Schließlich könnte man sonst noch die letzten zahlenden Leser*innen verprellen.

Es kann bestimmt nicht schaden, wenn man sich beim »Tagesspiegel« mal vergegenwärtigen würde, was der britische Journalist und Dozent Jonathan Foster seinen Studierenden sagte: »Wenn jemand sagt, es regne, und ein anderer, es sei trocken, ist es nicht eure Aufgabe, beide zu zitieren. Es ist eure Aufgabe, aus dem verdammten Fenster zu schauen und herauszufinden, was wahr ist.«

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