Ein Urteil für die Geschichtsbücher

Der Stutthof-Prozess vor dem Landgericht Itzehoe geht zu Ende. Es könnte das letzte Verfahren gegen NS-Verbrecher sein

  • Dieter Hanisch
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Stutthof-Prozess will das Landgericht Itzehoe am Dienstag das Urteil sprechen. Ob schuldig, Haftstrafe, Bewährungsstrafe oder unschuldig – hier endet in der schleswig-holsteinischen Stadt ein Strafverfahren für die Geschichtsbücher. Es handelt sich um einen der letzten Prozesse, bei denen NS-Verbrechen noch auf die Anklagebank gebracht wurden. Vielleicht ist es angesichts des Alters der als damalige Täter in Frage kommenden Beschuldigten sogar der letzte Prozess. Er richtet sich gegen die Angeklagte Irmgard F.

40 Prozesstage sind seit Prozessbeginn Ende September 2021 vergangen. Der Angeklagten wurde vorgehalten, als Lagersekretärin im damaligen Konzentrationslager Stutthof Schuld am systematischen Massenmord in mehr als 10 000 Fällen auf sich geladen zu haben. Die 97-Jährige schwieg bis zur Möglichkeit ihres Schlusswortes. Dort brachte sie lediglich über die Lippen: »Es tut mir leid, was alles geschehen ist, und ich bereue, dass ich zu dieser Zeit gerade in Stutthof war.« Ein Schlussbeitrag, mit dem niemand mehr gerechnet hatte, aber eben keine Worte von Reue oder Bedauern zu den Massentötungen in dem Konzentrationslager bei Gdansk, sondern eher eine unverbindliche Entschuldigung, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein.

Durch das Schweigen der heute in einem Seniorenheim in Quickborn (Kreis Pinneberg) lebenden F. wurde die Beweisaufnahme zu einer langatmigen Angelegenheit, bei der wegen einer Corona-Erkrankung der ohnehin nur bedingt verhandlungsbelastbaren Angeklagten sogar zwischenzeitlich um die Fortsetzung des Prozesses gebangt werden musste. Dem Schweigen der Angeklagten begegnete das Landgericht durch eine historische Aufarbeitung mit Hilfe des Sachverständigen Stefan Hördler und einfühlsamen Zeugenaussagen von Stutthof-Überlebenden, die den Lageralltag als Hölle bezeichneten. Die SS hatte dort während des Zweiten Weltkriegs mehr als 100 000 Menschen unter erbärmlichen Bedingungen gefangen gehalten, darunter viele Juden. Etwa 65 000 starben nach Erkenntnissen von Historikern. Die genaue Opferzahl lässt sich nicht mehr feststellen.

Zur Wahrheitsfindung diente am 4. November zusätzlich eine Reise von Prozessbeteiligten zum damaligen Tatort. Dabei ging es darum, sich einen persönlichen Eindruck darüber zu verschaffen, was die Sekretärin in der Schaltzentrale des Lagers unvermeidlich vom Tötungsapparat sehen, hören, mitbekommen und wissen musste. F. war laut Anklage von Juni 1943 bis April 1945 als Zivilangestellte in der Verwaltung des Lagers beschäftigt, wo sie als Stenotypistin direkt für den Kommandanten an zentraler Stelle arbeitete.

Weil F. im Tatzeitraum erst 18 bzw. 19 Jahre alt war, räumte die Staatsanwaltschaft ihr den Heranwachsenden-Bonus ein, nach Jugendstrafrecht behandelt zu werden. Staatsanwältin Maxi Wantzen sah es als erwiesen an, dass F. sich der Beihilfe zum Mord an mehr als 10 000 Menschen schuldig gemacht hatte. Sie forderte das im Jugendstrafrecht maximale Strafmaß mit Bewährung, nämlich zwei Jahre. In den Plädoyers der Nebenklagevertreter waren sich alle einig, dass F. sich schuldig gemacht habe.

Die Anwälte verdeutlichten, dass es ihren Mandanten vor allem um eine amtlich deklarierte Schuldanerkenntnis gehe und weniger um eine persönliche Abrechnung mit der Angeklagten, sodass auch eine Bewährungsstrafe Akzeptanz findet. Lediglich Anwalt Christoph Rückel zeigte kein Verständnis für eine Bewährungsstrafe. Dies würde in seinen Augen ein falsches Signal an die Öffentlichkeit senden. Und sein Kollege Günther Feld setzte mit seinem Statement zum Holocaust das Geschehene und zu Bewertende in den zu bedenkenden Kontext, dass »keine Strafe, die nach unserem Recht möglich wäre, dem gerecht wird, was da passiert ist, diesem einzigartigen Menschheitsverbrechen, zu dem auch Stutthof zu zählen ist«.

Einen anderen Blick auf die Dinge hat Wolf Molkentin, Verteidiger von Irmgard F. Für ihn hat die Beweisaufnahme keine ausreichenden Erkenntnisse gebracht, dass die frühere Lager-Sekretärin sich irgendeine Schuld im Sinne der Anklage hat zukommen lassen. Schließlich haben sich auch keine schriftlichen Belege über Mitwisserkenntnisse und damit dem Beihilfe-Aspekt von F. in Stutthof gefunden, sodass es für Molkentin nur einen Freispruch geben kann.

Für Nebenklageanwältin Christine Siegrot liegt die eigentliche Problematik in dieser Art Strafprozessen darin, dass die deutsche Justiz sich erst viel zu spät für eine Anklage gegen F. entschieden hat. Bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen hatte man in erster Linie nur die oberste Befehlsebene im Blick. »Der Prozess gegen F. hätte eigentlich in den 1950er Jahren stattfinden müssen.« Auch beim Beihilfe-Aspekt hatte die Justiz zunächst SS-Verantwortliche und Lager-Wachleute im Fokus. Solch einen Fall, dass eine Zivilangestellte eines Lagers sich für ihre Rolle verantworten muss, hat es bisher in der Rechtsgeschichte hierzulande noch nicht gegeben.

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