- Politik
- Krise an den Schulen
Wie der Lehrermangel beseitigt werden kann
Bildungsexperten sprechen von einer Versorgungskrise und fordern eine bessere Kooperation der Bundesländer
Mehr als 30 000 Lehrkräfte fehlen derzeit hierzulande an den staatlichen Schulen. Einer Studie des Bildungsforschers Klaus Klemm zufolge könnten 2030 sogar mindestens 80 000 Lehrkräfte fehlen, weil mit den schulpolitischen Reformprojekten des Ganztagsausbau, der Inklusion und der »Unterstützung von Kindern in herausfordernden sozialen Lagen« enorme Mehrbedarfe einhergehen, während noch nicht einmal der Grundbedarf gedeckt werden kann.
Berlin konnte bis zu Beginn des laufenden Schuljahres nur 60 Prozent seiner ausgeschriebenen Stellen besetzen. In der Folge fällt Unterricht aus oder Klassen müssen zusammengelegt werden. Für die individuelle Förderung der Schüler fehlt dann die Zeit. Die Langzeitfolgen dürften katastrophal sein. Der Studie »Bildungstrend 2021« des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen zufolge erreichten 27,2 Prozent der Berliner Viertklässlerinnen im vergangenen Jahr nicht die erwarteten Mindeststandards im Kompetenzbereich Lesen. Deutschlandweit waren es durchschnittlich 18,8 Prozent.
»Wir haben kein Versorgungsdefizit, wir haben eine Versorgungskrise«, sagte Mark Rackles am Montag in Berlin bei der Vorstellung der Broschüre »Wege aus dem Lehrkräftemangel«, die er im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung verfasst hat. Rackles ist SPD-Mitglied und war von 2011 bis 2019 Staatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft. In seiner Broschüre geht Rackles zunächst auf die Gründe für den Lehrkräftemangel ein und zeigt, dass fast alle Bundesländer mehr Lehrer einstellen, als an jeweiligen Hochschulen der Bundesländer ausgebildet werden. Sie können also ihren durch Pensionierung beziehungsweise Verrentung und wegen anderer Faktoren wie steigenden Schülerzahlen bestehenden Eigenbedarf nicht decken. Deutschlandweit betrug der Mehrbedarf im vergangenen Jahr 18 Prozent.
Bildungspolitik ist hierzulande bekanntermaßen Ländersache. Bislang versuchen sich die Bundesländer daher selbständig an Maßnahmen zur Bekämpfung des Lehrkräftemangels, obwohl dieser alle Bundesländer – wenngleich unterschiedlich stark – betrifft. Der thüringische Bildungsminister Helmut Holter (Linke), der zu der Broschüre ein Vorwort verfasste, sagte, es gebe »ein Konkurrenzverhalten zwischen den Ländern«, weil die Bildungsminister zunächst auf ihr Land schauten, wenn es darum gehe, die Probleme bei der Absicherung des Unterrichts und der Lehramtsausbildung zu lösen. Rackle fordert daher »eine länderübergreifende und verbindliche Koordinierung, die auf gemeinsame Ziele und Standards ausgerichtet ist«. Die bisherige Praxis der »freiwilligen Selbstkoordinierung« im Rahmen der Kultusministerkonferenz sei »in Untätigkeit gemündet«, weshalb Rackle einen Staatsvertrag zur Deckung des Lehrkräftebedarfs vorschlägt, der eine »Verpflichtung zum langfristigen Aufbau und Erhalt von Mindestkapazitäten in den Ausbildungsstrukturen«, aber auch Regelungen für einen Finanzausgleich zwischen den Ländern enthalten müsse. Einen entsprechenden Entwurf hat Rackle für die Broschüre verfasst und ihr angehängt.
Daneben fordert er in seiner Broschüre eine »Ausbildungsoffensive Bildung 2023–2032«, deren Ausgestaltung sich an der »Ausbildungsoffensive Pflege 2019–2024« orientieren könne. Dafür brauche es etwa eine federführende Geschäftsstelle der Länder, aber auch eine Kooperation mit dem Bund. Zwar hat die Bundesregierung von SPD, Grünen und FDP angekündigt, »einen bundesweiten Staatsvertrag zur bedarfsgerechten Lehrkräfteausbildung« anzustreben, allerdings steht dem ein im Grundgesetz stehendes faktisches Kooperationsverbot von Bund und Ländern bei dauerhaften Ausgaben im Bildungsbereich entgegen. Daher bedürfte es einer Grundgesetzänderung, die sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat hohe Hürden nehmen müsste.
Insbesondere die Regierungen der nach Bevölkerungszahl größten Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg beharren regelmäßig auf ihren Kompetenzen. Diese spiegeln freilich auch ihre Macht. In dem Fall, dass sich keines dieser drei Länder beteiligen werde, sagte Rackle, »hat ein solcher Staatsvertrag politisch keinen Sinn«.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.