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Schuldspruch im Stutthof-Prozess

Beihilfe zum Mord in 10 505 Fällen: Irmgard F. wurde zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt

  • Dieter Hanisch
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Dienstag endete ein auch international viel beachteter Prozess: Das Landgericht Itzehoe verurteilte die 97-jährige Irmgard F. zu zwei Jahren auf Bewährung. Die dritte Große Jugendkammer sah bei der KZ-Sekretärin die Schuld der Beihilfe zum Mord in 10 505 Fällen und des versuchten Mordes in fünf Fällen. Mit dem Urteil folgte das Gericht dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft. Rechtskräftig ist es allerdings noch nicht, da die Verteidigung sich vorbehält, nach Prüfung der schriftlichen Begründung Revision einzulegen.

Das Interesse an dem fast 15 Monate dauernden Prozess war auch deshalb so groß, weil zum ersten Mal eine Zivilangestellte eines KZ wegen der grausamen NS-Verbrechen angeklagt worden war. F. schwieg bis auf ein kurzes Schlusswort während des gesamten Prozesses. Darin erklärte sie, es tue ihr leid, was geschehen sei, und sie bereue, dass sie zu der Zeit gerade in Stutthof gewesen sei. Auf die einstündige Urteilsverkündung durch den vorsitzenden Richter Dominik Groß zeigte sie hinter einer Mund-Nasen-Bedeckung keine sichtbare Reaktion in ihrem Rollstuhl.

Das Gericht hatte keine Zweifel an der Mittäterschaft von F., die im Alter von 18 und 19 Jahren von 1943 bis 1945 als Schreibkraft in der Lagerkommandantur tätig gewesen war. Deshalb fand das Verfahren gegen sie vor einer Jugendkammer statt. »Den Prozess konnte es nur geben, weil der Angeklagten ein besonders langes Leben vergönnt war«, sagte Groß zu Beginn seiner Urteilsbegründung. F. habe Beihilfe durch ihre Schreibtätigkeit, durch ihre Niederschrift der Kommandanturbefehle geleistet, begründete er die Entscheidung der Kammer. Diese Tätigkeit sei für die Organisation des Lagers und die Durchführung der grausamen, systematischen Tötungshandlungen notwendig gewesen.

Der heute 97-Jährigen sei dabei nicht verborgen geblieben, was in Stutthof geschehen sei – »der Geruch von Leichen war allgegenwärtig«. Sie habe Kenntnis von den Haupttaten im Lager gehabt, sagte der Richter, habe zudem von den extrem schlechten Bedingungen gewusst, unter denen die Gefangenen gelebt hätten.

Nebenklageanwalt Christoph Rückel zeigte sich zufrieden damit, dass die Prozessstrategie von Verteidiger Wolf Molkentin, die Angeklagte von allem reinzuwaschen, nicht aufgegangen sei. Andererseits haderte Rückel damit, dass F. für ihre festgestellte Schuld eine Bewährungsstrafe bekommen habe. Hans-Jürgen Förster, weiterer Nebenklageanwalt in Itzehoe, betraut mit vier Mandaten aus Australien und Israel, sagte direkt nach dem Prozess, dass das Genugtuungsinteresse überlebender Stutthof-Opfer und deren Angehöriger allein darauf gerichtet gewesen sei, dass es zu einer gerichtlichen Schuldigsprechung wegen Beihilfe am massenhaften Mord komme. Die Strafhöhe sei da vollkommen sekundär. »Gerechtigkeit kennt kein Verfallsdatum – auch nicht 77 Jahre nach Kriegsende«, unterstrich Förster.

In die gleiche Richtung gingen die Urteilsausführungen des vorsitzenden Richters, der daran erinnerte, dass Mord und die Beihilfe dazu keine Verjährung kennten und dann auch über 75 Jahre nach den verübten Taten ein Prozess eröffnet werden müsse. Groß kritisierte die deutsche Rechtsprechung, dass es in diesem und ähnlichen Fällen von NS-Verbrechen nicht bereits viele Jahre früher zu einer Anklage gekommen sei.

Die Nebenklage kritisierte im Verlauf des Prozesses die Anklagebehörde dafür, dass erst 2021 Anklage erhoben worden sei, obwohl die Akte schon seit Juli 2016 bei der Staatsanwaltschaft Itzehoe gelegen habe. Seit Vorliegen der Anklageschrift verstarben insgesamt sechs Nebenklägerinnen und Nebenkläger, die das nun erfolgte Urteil nicht mehr miterleben konnten.

Groß hob heraus, dass es für F. in ihrem Alter und mit ihrem Gesundheitszustand ein Leichtes gewesen wäre, ihre Verhandlungsfähigkeit derart in die Waagschale zu werfen, dass sie sich einem Prozess auch gänzlich hätte entziehen können. Dies habe in der Bewährungsentscheidung als ein Argument für F. gesprochen.

Der Zentralrat der Juden zeigte sich in einer ersten Reaktion zufrieden darüber, dass es den Itzehoer Prozess gegeben habe und dieser auch mit einer klaren Schuldzuweisung und Verurteilung zu Ende gegangen sei.

Im Lager Stutthof bei Danzig hatte die SS während des Zweiten Weltkriegs mehr als 100 000 Menschen unter erbärmlichen Bedingungen gefangen gehalten, darunter viele Juden. Etwa 65 000 starben nach Erkenntnissen von Historikern. Das Lager war berüchtigt für die absichtlich völlig unzureichende Versorgung der Gefangenen. Die meisten Menschen starben an Seuchen, Entkräftung und Misshandlung. Es gab jedoch auch eine Gaskammer und eine Genickschussanlage.

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