Mitgefühl ohne Mitleid

In der Doku »Marie will alles« wird eine Frau mit Down-Syndrom porträtiert, die zielstrebig auf der Suche nach Normalität ist

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Marie wird einfach als sie selbst gezeigt und das ist schon eine filmische Leistung.
Marie wird einfach als sie selbst gezeigt und das ist schon eine filmische Leistung.

Es gibt da dieses Lied des Songwriters Funny van Dannen, das er jetzt gewiss anders betiteln würde, aber nun ist es mal in der Welt und skizziert die ARD-Serie »Marie will alles« einfach viel zu gut für achtsames Unterschlagen: »Auch schwarze lesbische Behinderte können ätzend sein.« Klingt hart, ist wahr und damit fürs öffentlich-rechtliche Kernpublikum ähnlich schwer verdaulich wie Afrikaner an »Traumschiff«-Stränden, die arm sind und kein fließendes Deutsch sprechen.

Die Kölnerin dagegen spricht kantiges Deutsch, ist ebenso weiß wie heterosexuell und doch sichtbar anders als traditionelle Traumschiffgäste. Marie hat Trisomie 21, eine Beeinträchtigung also, die Fernsehunterhaltung sonst windelweich zeichnet. Fast 50 Jahre, nachdem in »Unser Walter« ein Kind mit Down-Syndrom zur fiktionalen (einst polarisierenden) TV-Figur wurde, versichert sich die Mehrheitsgesellschaft ihrer Empathie gern durch Menschen mit Down-Syndrom, an denen nie etwas ätzend ist.

Im Gegenteil: Wann immer Rolf »Bobby« Brederlow Seifenopern Marke Rosi Pilcher betritt, wann immer Tim Mälzer bei Vox mit Menschen mit Trisomie 21 kocht, wann immer ihr kindliches Wesen durch Feelgood-Formate wie »Frühling« tröpfelt, wann immer es im SWR-Dokutainment »Down the Road« Ross Antony zu Tränen rührt: die Rolle von Menschen mit einer Chromosomen-Veränderung ist spätestens seit jener trostlosen Zeit, als das ZDF ihre Aktion »Sorgenkind« in »Mensch« umbenannt hat, uneingeschränkt positiv. Womit wir bei Marie wären.

Die gibt es tatsächlich, und zwar seit 23 Jahren, von denen der WDR 15 Jahre mit Kameras dabei war, um ihr Leben zu dokumentieren. Marie beim Spielen, Marie beim Daten, Marie beim Arbeiten, Marie beim Wohnung suchen, finden, beziehen also »Durchstarten mit Downsyndrom«, wie uns der Untertitel genreüblich anbrüllt: viermal 25 Minuten lang begleiten Christoph Goldbeck und Ilka aus der Mark die Frau durch ein Leben, das vielfach vor Rührung zu Tränen rührt, aber durchaus Schattenseiten hat.

Schließlich sagt sie zu Beginn der ungewöhnlichen, manche denken gewiss ungebührlichen Langzeitstudie: »Ich wusste von Anfang an, dass irgendwas in mir falsch ist. Ich werde schnell wütend, ich schreie oft rum.« Dann folgt eine sprachlich holprige, aber inhaltlich klare Reflexion, die Funk und Fernsehen bei der Darstellung des angeblich Unnormalen normalerweise vermeiden: »Ich hab manchmal das Gefühl, dass ich ein Problemkind für alle bin.« Was für ein Satz!

Als sei nicht die feindselige Umgebung unserer Selbstoptimierungsgesellschaft heikel, sondern ihre schwächeren Glieder. Als sei Marie ein bisschen selber schuld daran, was früher als »Schicksal« galt und heute eher als »Herausforderung«. So viel raue Wirklichkeit ist sogar dokumentarisch selten, wenn es um die Objekte sozialer Vorurteile geht, nicht ihre Subjekte. Denn »Marie Down anders«, wie das Porträt zunächst heißen sollte, zeigt seine Titelfigur mit großer Liebe zur Individualität.

Von ihrer leiblichen Mutter zur Adoption freigegeben, wächst sie bei ihren Pflegeeltern zwar nicht gerade wie jedes beliebige Kind auf. Aber welches Kind ist schon beliebig? Marie mag ein wenig anders aussehen, reden wie Gleichaltrige. Sie hat aber dieselben Wünsche, Hoffnungen, Träume, Begehrlichkeiten wie alle Teenager. Marie will Liebe und Sex, Kinder und Karriere, Instagram-Follower und auch sonst das ganze Stück Kuchen statt nur ein paar Krümel. Sie weiß, dass der Weg dorthin steiniger ist als üblich, lässt sich aber von niemandem aufhalten.

Schließlich weiß sie hingebungsvolle, problembewusste, politisch sensible Adoptiveltern an ihrer Seite. Eine »Standardzukunft Sonderschule, Behindertenwerkstatt, Wohnheim« will die Sonderpädagogin Martina für ihre Tochter nämlich genauso vermeiden wie für deren ebenfalls adoptierte Schwester, die auch das Down-Syndrom hat – »damit sie sich gegenseitig unterstützen«. Und das tun sie so intensiv, so verbissen, so menschlich, also bisweilen fehlerhaft, dass man beim Zusehen nie das Gefühl hat, gefühlsinfiltriert zu werden.

Trotz dusseliger Klaviertropfen auf jeder halbwegs emotionalen Szene schafft es »Marie will alles« somit über zwei kurzweilige Stunden hinweg, Mitgefühl ohne Mitleid zu erzeugen und erreicht damit das Niveau der australischen Datingshow »Liebe im Spektrum«, bei der Menschen mit Autismus aller Art beim Ringen um Normalität, vor allem aber um Autonomie gezeigt werden. »Ich will genau so sein wie die anderen«, sagt Marie einmal und fügt hinzu: »Nicht so als Downkind«. Diesen Traum wird sie sich niemals erfüllen. Aber den Weg dorthin beschreitet Marie zusehends alleine. Und darf dabei manchmal echt ätzend sein.

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