»Wohnungs­lose haben es extrem schwer«

Sabine Reuß über die Angst vorm Zahnarzt, Obdachlosigkeit und das Projekt Housing First

  • Timo Reuter
  • Lesedauer: 7 Min.
Nach mehreren Jahren der Wohnungslosigkeit lebt Sabine Reuß heute dank des Programms Housing First der Diakonie Frankfurt und Offenbach in ihrer eigenen Wohnung.
Nach mehreren Jahren der Wohnungslosigkeit lebt Sabine Reuß heute dank des Programms Housing First der Diakonie Frankfurt und Offenbach in ihrer eigenen Wohnung.

Frau Reuß, Sie waren mehrere Jahre wohnungslos. Wie kam es dazu?

Interview

Sabine Reuß lebt in Frankfurt am Main. Dort arbeitete die 47-Jährige nach einer Lehre zur Speditionskauffrau am Flughafen und in einer Kneipe. Nachdem sie mehrere Jahre wohnungslos gewesen ist, lebt sie heute dank des Programms Housing First der Diakonie Frankfurt und Offenbach in einer eigenen Wohnung.

Früher habe ich in einer Kneipe im Frankfurter Bahnhofsviertel gearbeitet, da waren viele Junkies und Obdachlose. Doch ich hätte nie damit gerechnet, dass mir auch mal so etwas passiert. Das Elend war auf der anderen Straßenseite, aber man war nicht direkt betroffen. Ich habe die Leute ab und an unterstützt und Klamotten gesammelt. In der Kneipe habe ich dann meinen damaligen Partner kennengelernt. Nach einem Jahr bin ich zu ihm in die Wohnung gezogen. Er hat mich immer auf der Arbeit besucht, aber irgendwann kam er mit dem Bahnhofsviertel nicht mehr klar und hat heimlich Heroin genommen.

Sie haben das nicht gemerkt?

Ich habe mir Sorgen gemacht, aber vielleicht habe ich nicht richtig hingeschaut, weil ich Angst hatte, was zu finden. Zuerst dachte ich, der Grund sei die viele Arbeit. Er ist immer arbeiten gegangen, egal in welcher Sucht er war. Irgendwann hat er es mir gestanden und ich habe mit ihm einen Entzug gemacht. Doch als er vom Heroin weg war, hat er Crack genommen. Da kam er gar nicht mehr klar und ist nachts zu meiner besten Freundin gegangen, die in derselben Kneipe gearbeitet hat. Plötzlich waren die beiden ein Paar – und er hat mich nach vier Jahren aus seiner Wohnung geworfen. Meine ehemals beste Freundin hat meinem Chef dann noch so schlimme Sachen über mich erzählt, dass mir gekündigt wurde.

Wo sind Sie hin?

Ich hatte kein Geld, um eine Wohnung anzumieten. Also habe ich meine Sachen gepackt und bin zu einem Freund gezogen. Er hat mich in seiner Einzimmerwohnung aufgenommen, er war sowieso meistens bei seiner Freundin. Dort habe ich von nichts gelebt, ab und an hat er mir was in den Kühlschrank gestellt. In dieser Zeit bin ich in ein großes Loch gefallen. Das war so ein großer Tabubruch. Aber es kam noch schlimmer! Nach zwei Jahren wollte mein Kumpel mit seiner Freundin zusammenziehen und ich musste da raus. Da habe ich meinen Ex angerufen.

Obwohl er Sie betrogen hatte?

Wir waren fünf Jahre zusammen und er hatte mich auf Händen getragen vorher. Danach war er süchtig und ich dachte, Süchtige seien nicht ganz bei Sinnen. Außerdem war ihr schlechter Einfluss groß. Und ich habe ja unbedingt einen Unterschlupf gebraucht. Da hat er mir gesagt, dass seine Eltern einen Garten in Frankfurt hätten, ein großes Grundstück mit einer Hütte drauf, mit Duschkabine und Holzofen. Da sind wir gemeinsam hin. Er wollte wieder mit mir zusammen sein.

Sie haben also in einer Gartenhütte gewohnt?

Wir haben da eher gehaust. Nach kurzer Zeit habe ich gemerkt, dass nicht mehr Crack das Problem war, sondern der Alkohol. Am Anfang kam er besoffen heim und ist eingeschlafen. Da hatte ich wenigstens meine Ruhe. Doch dann hat er seinen Job verloren und eine Entziehungskur gemacht. Ich glaube, die haben ihm dort irgendwelche Tabletten gegeben. Als er wieder nach Hause kam, hat er Psychosen bekommen – und weiter getrunken. Er wurde gewalttätig und hat sich immer wieder entschuldigt mit dem Blackout, den er bekommen habe. Aber am nächsten Tag ist mit der Kettensäge herumgerannt und wollte mir die Kehle durchschneiden. Dabei habe ich mir immer geschworen, ich lasse mich niemals hauen.

Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?

Ich hatte Angst, dass ich auf der Straße lande. Wir durften ja nicht dort wohnen.

Es gibt Notunterkünfte für Obdachlose.

Ich habe mir so eine Unterkunft für Frauen mal angeschaut. Da schlafen sieben Mädels um die 20 und sind alle schwerst abhängig. Ich hatte dafür keine Kraft, ich wollte zur Ruhe kommen.

Sie waren wie gelähmt?

Ich hatte nichts, keine Freunde mehr, kein Geld, keine Postadresse, keinen Perso. Wo hätte ich denn anfangen sollen? Ich war absolut verzweifelt. Zum Glück hat mir ein Nachbar im Garten dann erzählt, dass die Diakonie ein Büro um die Ecke hat und mir helfen kann. Ich dachte immer, bei der Caritas oder der Diakonie bekäme ich nur warmes Essen oder Klamotten. Trotzdem bin ich nach dem Einkaufen vorbeigefahren, die Tür war offen und mich hat direkt jemand angesprochen. Da sind mir schon die Tränen gelaufen.

Vor Freude?

Ja, aber auch vor Scham. Bis zu meinem Absturz hatte ich mein Leben doch ganz gut im Griff. Wie konnte mir nur so etwas passieren? Außerdem hatte ich sieben Zähne verloren. Ich habe Knochenschwund und dann gab es da so einen Unfall mit dem Tretroller. Danach habe ich den abgebrochenen Schneidezahn mit Sekundenkleber festgeklebt, aber der Zahn ist immer wieder nach vorne geklappt. Das war so schlimm, man spricht niemanden mehr an, man atmet sogar anders, damit es niemand sieht. Ich war ja nicht einmal krankenversichert. Egal welche Verletzungen ich hatte, ich habe mich immer selbst behandelt. Der Mann von der Diakonie war aber ganz verständnisvoll.

Wie hat er Ihnen geholfen?

Er hat in einem Wohnheim für Frauen angerufen. Ich bin am nächsten Tag dorthin gegangen und habe eine Postadresse bekommen und 50 Euro, um Fotos für einen Ausweis zu machen und die Fahrscheine zu bezahlen. Dann konnte ich Hartz IV beantragen. So war ich nicht auf meinen Freund angewiesen. Vielleicht wäre er nicht einverstanden gewesen mit meiner neuen Selbständigkeit. Also habe ich ihm erst einmal nichts erzählt.

Wie ging es weiter?

Für mich war klar: Noch einen Winter im Garten schaffe ich nicht. Die Frau von der Diakonie hat mir dann von einem Pilotprojekt erzählt: Housing First. Da gibt es Apartments, die von der Stadt bezahlt werden. Trotzdem hatte ich Angst und dachte: Bevor ich eine Wohnung bekomme, kriegen alle anderen erst mal eine. Wohnungslose haben es extrem schwer. Wenn man ohne Einkommen ist, wenn man Schulden hat, aber kein Konto, wie soll man dann eine Wohnung finden? Alleine die Wege zu den Ämtern sind so beschwerlich. Und wenn man kein Internet hat, kein Handy, wie soll man wissen, wo man Hilfe bekommt?

Bei Housing First bekommen Wohnungslose zuallererst eine Wohnung – ohne Wenn und Aber.

Ich habe natürlich nach den Bedingungen gefragt – und die Antwort hat mich verblüfft. Es gab kaum Bedingungen. Ich war so baff über das Vertrauen, das mir entgegengebracht wurde. Jetzt lebe ich in einer Einzimmerwohnung mit großem Balkon und habe meinen eigenen Mietvertrag. An der Tür steht jetzt mein Name, das ist so schön. (weint)

In Finnland wurde die Obdachlosigkeit mit Housing First erfolgreich bekämpft. In vielen anderen Staaten wie Deutschland ist dieses Konzept eher die Ausnahme.

Man sollte das unbedingt ausbauen, helfendere Hände gibt es nicht. Jetzt kann ich alleine auf die Beine kommen. Aber ohne eigene Wohnung läuft nichts. Natürlich geht es da auch um Sicherheit – gerade als Frau.

Wie sieht es bei Ihnen im Haus aus?

Von 60 Mietparteien sind zwölf von Housing First. Wir sind aber nicht separiert als »die Anderen«, sondern im ganzen Haus verteilt. Unten gibt es ein Büro der Diakonie. Sie macht keinen Druck, aber hilft total gut mit neuen Möbeln oder der Bürokratie. Ich habe Deutsch-Abitur, aber ich hätte nicht gewusst, welche Wege ich gehen muss. Und dann war noch das mit den Zähnen. (lacht)

Sie lächeln wieder.

Ich habe Angst vor dem Zahnarzt – also so richtig schlimm. Wenn ich wusste, dass ich nächste Woche zum Zahnarzt musste, konnte ich nicht mehr schlafen und bin auch nicht hin. Aber hier war das anders. Mir wurde eine Zahnärztin für Obdachlose vorgestellt. Sie war sehr einfühlsam und für die Behandlungen ist meine Sozialarbeiterin sogar nach Feierabend dageblieben. Das alles war im Büro der Diakonie, ich musste nirgendwo hin und mich um nichts kümmern. Ich wollte auch unbedingt mit neuen Zähnen in mein neues Leben gehen. Kommendes Jahr will ich dann eine Ausbildung als Kindergärtnerin beginnen. Ich liebe Kinder, aber ohne Zähne war das unmöglich. Doch jetzt geht das, sie sind gut geworden, oder? (lacht)

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