Alles für die Kinder?

»Kinderschutz« ist ein Totschlag-Argument, denn wer wollte nicht, dass Kinder geschützt sind?

  • Kirsten Achtelik
  • Lesedauer: 5 Min.
Hat das Kind selbst entschieden, in eine Pace-Fahne statt in eine Regenbogenfahne gewickelt zur Pride in Freiburg zu gehen?
Hat das Kind selbst entschieden, in eine Pace-Fahne statt in eine Regenbogenfahne gewickelt zur Pride in Freiburg zu gehen?

Kinder schützen wollen alle, aber wovor Kinder von wem geschützt werden müssen, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Konservative finden meist, dass Kinder in klassischen heterosexuellen Ehen am besten geschützt sind. Diese Ansicht hat sich aber in den letzten Jahren liberalisiert. »Wo Kinder sind, da ist Familie«, hatte schon 2006 der konservative Bundespräsident Horst Köhler beim Jahresempfang der Evangelischen Akademie Tutzing erkannt. Es wird einem ganz wohlig, bei so einer Rede, es geht um Glück, Fürsorge und sogar um Solidarität, wenn auch nur »zwischen den Generationen«. Und es geht um Gemeinschaft, pardon »Verwurzelung und Gemeinschaft«. Die Gemeinschaft sollte hier aber immerhin nicht die Volksgemeinschaft sein, sondern eben die Familie, und nicht nur die vermeintlich normale heterosexuelle Vater-Mutter-Kind-Kind-Familie, nein!

Ganz fortschrittlich postulierte Köhler, Kinder auf das Leben vorzubereiten, könne »in ganz unterschiedlichen Strukturen gelingen: in der Ehe, in nicht-ehelichen und auch gleichgeschlechtlichen Familien, in Patchwork- oder Einelternfamilien«. Das war neu für ihn und dürfte auch vielen konservativen Parteikolleg*innen nicht gefallen haben. Schließlich hatte sich der CDU-Politiker noch 2004, vor seiner Amtszeit, gegen die gleichgeschlechtliche Ehe ausgesprochen und gesagt, er halte »es nicht für richtig, die Ehe zwischen Mann und Frau und die gleichgeschlechtliche Partnerschaft praktisch auf die gleiche Stufe zu stellen«. Die gleichgeschlechtliche Ehe wurde dann schließlich erst mehr als zehn Jahre später legal. Einer der größten Unterschiede zur bereits vorher möglichen eingetragenen Partnerschaft ist, dass verheiratete Homosexuelle nun auch Kinder adoptieren können. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte ihr Nein zur gleichgeschlechtlichen Ehe lange mit ihren Bedenken wegen des Kindeswohls begründet.

Vorwand oder ernstgemeint, das Kindeswohl musste schon oft als Argument herhalten, um gleiche Rechte für Minderheiten abzulehnen. Hier die kleinen, süßen, unschuldigen Kinder, dort die verderbten Perversen, die ihre Triebe nicht unter Kontrolle haben. Welche »Perversionen« das jeweils sind, ist relativ austauschbar. Verheiratete Homosexuelle sind mittlerweile offenbar normal und anständig genug geworden, um ihnen Kinder anzuvertrauen. Aber was heißt das schon, wenn sich selbst in Bezug auf ihr Geschlecht und ihre sexuellen Vorlieben als normal empfindende Personen kaum die Unterschiede zwischen einer trans Person, einer Drag Queen und einem Schwulen benennen könnten. Die moralische Panik kann sich im Namen des Kinderschutzes weiterhin gegen jede*n richten, der*die als anders wahrgenommen wird. Nur nebenbei: Keine dieser Gruppen ist für Kinder gefährlich! Die Gruppe, auf die sich momentan am meisten Aufmerksamkeit und Hass richtet, sind trans Personen.

Die moralische Panik richtet sich aber auch gegen die Kinder selbst: Eine aufgeklärte Sexualerziehung gerät immer wieder ins Visier von Konservativen und extremen Rechten. Versuche, die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen, die Anerkennung sexueller Vielfalt und eine offene Haltung zur Sexualität zu fördern, werden als »Frühsexuallisierung« diffamiert. Die große Kampagne der »Demo für alle« brachte 2014 Tausende gegen eine Aktualisierung der Lehrpläne auf die Straßen. Ihr Logo: Die heile Kleinfamilie aus Vater, Mutter, Junge und Mädchen auf hellblauem oder rosa Hintergrund. Hier sammelten sich CDU, AfD, Evangelikale, katholische Fundamentalist*innen, Orthodoxe, Identitäre und Nazis.

Was Kindern und Jugendlichen Instrumente in die Hand geben soll, ihre eigenen Körper besser zu verstehen und sich gegen Übergriffe zur Wehr zu setzen, ist Ultrakonservativen ein Dorn im Auge. Wehrhafte Kinder mit eigener Meinung passen auch nicht zum traditionellen Rollenbild. Darum sträuben sich extrem Rechte und Rechtskonservative auch gegen Kinderrechte.

Daran lässt sich einmal mehr zeigen, dass »Kinderschutz« der Durchsetzung der eigenen Agenda dient. Rechte für Kinder würden nämlich die Kompetenzen der Eltern einschränken und, wie es heißt, »das natürliche Erziehungsrecht der Eltern« untergraben. Klar: Zum traditionellen Rollenbild gehört auch, dass Eltern am besten wissen, was für »ihre« Kinder gut ist und dass diese gehorchen, siehe viertes Gebot! Aber eben nicht alle Eltern! Rechte brauchen keine kohärente Erzählung, sie appellieren an Gefühle, Vorurteile und daran, dass Leute, die sich als normal empfinden, besser sein wollen als die »anderen«.

Vermeintliche Kindeswohlgefährdung war auch die Begründung für das 2013 in Russland beschlossene Gesetz gegen »LGBT-Propaganda«. Dieses Gesetz ist im November verschärft worden und verbietet nun jegliche positive Darstellung etwa von lesbischer und schwuler Anziehung unter Androhung von hohen Geld- oder Haftstrafen. Auch im Umgang mit Kindern und Jugendlichen wurde der Verbotskatalog deutlich erweitert: So dürfen an Minderjährige keinerlei Informationen über Geschlechtsangleichungen weitergegeben werden, die sie zu einem solchen Schritt ermutigen könnten. Russlands rechte Regierung schließt sich damit der internationalen Trans-Panik an.

Dass trans Menschen aktuell die große Gefahr für das Wohl von Kindern und Jugendlichen sind, darin scheinen sich zur Zeit (fast) alle einig zu sein: linke Schwule, Differenzfeministinnen, Ultrakonservative, extreme Rechte, Parlamente in Texas und Russland. Mal lautet der Vorwurf »Grooming«, dass also Erwachsene das Vertrauen von Kindern und Jugendlichen erschleichen, um sie sexuell zu belästigen. Mal wird über die »Trans-Mode« geklagt, die Kindern und Jugendlichen vorgaukele, sie seien trans und müssten nur ihre Körper anpassen, um ein besseres, leichteres Leben zu haben.

Solche Schauermärchen haben reale und fatale Auswirkungen: In dem queeren Club Q in Colorado Springs, in dem es im November einen Anschlag mit fünf Toten gegeben hat, sollte eigentlich eine Drag-Show stattfinden. Im US-Bundesstaat Texas sollen nächstes Jahr Drag Shows verboten werden, wenn Minderjährige im Raum sind. Mehrfach blockierten Nazis in den USA bereits Shows. Auf den Schildern der »Patriotischen Alternative«: Silhouetten von einer Frau und einem Mann, die gemeinsam einen Regenschirm hochhalten, der zwei Kinder – einen Jungen und ein Mädchen – vor regenbogenfarbenen Regen beschützen soll.

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