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Die gesetzliche Rumpelkammer
Leo Fischer über das vom Neoliberalismus heruntergewirtschaftete Gesundheitssystem
Es ist eine bittere Ironie, dass die globalisierte Welt die Macht des Nationalismus nicht gebrochen, sondern gestärkt hat. Der zuverlässige Handelspartner von gestern ist heute ein brutaler Erpresser, und die vertrauensvolle Zusammenarbeit von letzter Woche wird diese Woche zur Schlacht am kalten Büfett. Nirgends zeigt sich das mit grausamerer Konsequenz als im globalisierten Gesundheitssystem. Vor gut einem Jahr wollte der Westen, allen voran Deutschland, die Impfpatente nicht freigeben, weil ja an der Seuche auch verdient werden musste; jetzt hortet China Medikamente, da Covid im eigenen Land nun mal Vorrang hat – und der mit Rabatten verwöhnte Westen ruhig mal mehr bezahlen könnte.
Die aktuelle Medikamentenknappheit, die nicht nur Hustensaft, sondern auch Krebsmedizin betrifft, hat bezeichnende Dokumente der Selbstaufgabe hervorgebracht. Etwa die Empfehlung des Präsidenten der Bundesärztekammer an die Bürger*innen, sich auf Medikamentenflohmärkten selbst zu organisieren. Die Medikamentenknappheit ist aber nur die Spitze des Eisbergs: Wegen der anhaltenden Infektionswellen sind Notaufnahmen überlastet, werden Operationen verschoben. Pfleger*innen kündigen, Ärzt*innen strecken die Waffen. Gesetzlich Versicherte müssen am Telefon grundsätzlich einen Notfall behaupten, wollen sie einen Termin nicht erst im Sommer erhalten. Die stille, zweite Pandemie der psychischen Gesundheit fordert einen unsichtbaren Tribut, wo man selbst in Großstädten oft ein Jahr auf einen Therapieplatz warten muss.
Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der aufgeregten Öffentlichkeit nützliche Vorschläge und entsorgt den liegengelassenen Politikmüll. Alle Texte auf dasnd.de/vernunft.
Währenddessen verhökern die Krankenkassen Globuli, Wellness-Angebote und Ernährungsratgeber, denn am besten ist die Medizin, die nichts kostet. Man hätte Verdacht schöpfen sollen, als sie »Gesundheitskassen« wurden, also schon dem Namen nach mit Kranken nichts mehr zu tun haben wollten. Jahrzehnte der Deregulierung sorgten dafür, dass im ländlichen Raum ganze Regionen nur noch mit dem Hubschrauber versorgt werden. Der aktuelle Gesundheitsminister wie auch sein Vorgänger träumten vor Jahren davon, die Medizin in ein paar städtischen Zentren zu fokussieren, möglichst in Händen großer Aktiengesellschaften. Im Schatten des zusammenbrechenden Systems machen Esoteriker*innen und Scharlatan*innen kräftig Kasse. Impfskepsis, früher ein Randphänomen, hat es dank Querdenken in den Mainstream geschafft. Die Rückkehr vermeintlich ausgestorbener Seuchen ist nur eine Frage der Zeit.
Ähnlich wie die marode Bahn eine Werbemaßnahme für die Autolobby ist, ist das gesetzliche Gesundheitssystem eine für das private. Die Leute sollen sich lieber gleich für die Medizin erster Klasse entscheiden, denn je mehr zu den Privaten wechseln, desto mehr Gründe gibt es, das gesetzliche System grundsätzlich infrage zu stellen. Eine teurere Gesundheit ist auch ordnungspolitisch erwünscht: In den USA hält die Angst, den Job zu verlieren und unversichert krank zu werden, Millionen in eigentlich unerträglichen Arbeitsverhältnissen. In Deutschland soll man nun nach Gehältern streben, die für Medizin erster Klasse ausreichen; die gesetzliche Versorgung hingegen soll zur Rumpelkammer, Trostpreislotterie und Selbsthilfezentrale werden, die sich durch Unattraktivität selbst abschafft.
Das Chaos, das die neoliberale Revolte losgetreten hat, soll nun ihren vollständigen Triumph begründen. Wenn auch die Versorgung nicht länger global ist, so werden doch wenigstens die Profite global abgeschöpft. Es ist eine bittere Ironie, dass man dieses marode System als Errungenschaft verteidigen muss.
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