Die aufmüpfige, anarchische Stadt

Das Buch »Rebellisches Berlin« erzählt von der vielfältigen und zerstrittenen linken Szene

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 4 Min.

1932 kostete eine neun Quadratmeter große Zelle in einem ehemaligen Gefängnis am Berliner Molkenmarkt 26,50 Mark Miete. Damals verdiente ein Industriearbeiter 73 Pfennig in der Stunde. Wohlgemerkt brutto. Er hatte Abzüge und erhielt die Summe nicht voll ausgezahlt. Diejenigen, die in dem von Ungeziefer befallenen und deshalb »Wanzenburg« getauften Quartier hausten, waren aber zumeist arbeitslos. Am 1. September 1932 beschlossen die Bewohner den Streik. »Jeder zahlt nur so viel Miete, wie hoch er seine Wohnung einschätzt«, lautete die Parole. »Wer nichts zahlen kann, zahlt eben überhaupt nichts.« 80 von 110 Familien beteiligten sich, leisteten auch Widerstand gegen den Rauswurf von Nachbarn, die mit der Miete länger in Verzug waren. Die Rebellion gegen die unzumutbaren Verhältnisse hielt bis zum 26. September an und hatte Erfolg. Mietrückstände wurden erlassen, die Miete um 42 Prozent gesenkt.

Gegen Olympia und Abschiebungen

Die historischen Ereignisse in der Wanzenburg sind in dem Buch »Rebellisches Berlin« aufgeführt. Geschildert wird dort auch eine Revolte, die 1863 ausbrach, als ein Schneidermeister in der Oranienstraße seinen Mieter vor die Tür setzen wollte, weil dieser sich auf eigene Faust zwei Öfen gesetzt hatte. Aber auch die Initialzündung für das Bündnis »Zwangsräumungen verhindern« im Jahr 2012 ist ein Thema: In den Fenstern einer Erdgeschosswohnung am Maybachufer hingen Zettel unter anderem mit der eindeutigen Ansage von Nuriye Cengiz an ihren Vermieter: »Du kriegst mich hier nicht raus.«

»Rebellisches Berlin« spannt einen Bogen von aufsässigen Einwohnern der Stadt im Mittelalter bis hin zur Gegenwart und versammelt fast alles, was auch nur entfernt als Widerstand gegen Unterdrückung und Ausbeutung verbucht werden kann. Dazu zählt die Bewegung gegen die 1991 erfolgte Bewerbung Berlins um die Olympischen Spiele im Jahr 2000. Aber auch der Versuch, im Juni 2009 den Flughafen Tempelhof zu besetzen, um die Bebauung des Areals zu verhindern. Dazu zählen die Roma, die 2016 am Mahnmal für die von den Nazis ermordeten Sinti und Roma gegen ihre drohende Abschiebung aus der Bundesrepublik protestierten. Dazu zählen Homosexuelle, die sich gegen Diskriminierung wehren, Frauen, die für Gleichberechtigung kämpfen, Schwarze, die Rassismus nicht länger hinnehmen wollen, Punks, die in Ostberlin allein durch ihre Frisuren provozieren und so weiter. Nicht fehlen dürfen natürlich die Revolutionären-1.-Mai-Demonstrationen seit Ende der 1980er Jahren in Kreuzberg sowie die Hausbesetzungen in der Mainzer Straße in Friedrichshain und die Straßenschlacht bei ihrer Räumung im November 1990.

Auch Kollektivbetriebe, die solidarisch wirtschaften und ein vereiteltes Bombenattentat auf die Siegessäule 1921 kommen vor, außerdem die Anarchistin Agnes Reinhold (1859–1916), die für ihre Überzeugung ins Gefängnis gesperrt wurde. Was sonst noch der Erwähnung wert wäre – es lässt sich hier nicht einmal ansatzweise aufzählen.

Für einen Stadtführer zu dick und schwer

»Expeditionen in die untergründige Stadt« verspricht der Untertitel des Buches. Das ursprüngliche Konzept, einen Stadtführer zu Orten des Widerstands anzubieten, ist allerdings in mehrerlei Hinsicht danebengegangen. Denn der Umfang der Publikation weitete sich in mehrjähriger Arbeit an dem Buchprojekt auf stolze 838 Seiten aus, da mit der Zeit noch dieser und jener Aspekt mit einem gesonderten Kapitel gewürdigt wurde. Doch kaum ein Leser wird sich mit einem derart dicken und schweren Wälzer auf einen Stadtrundgang zu den Originalschauplätzen begeben. Er würde auch bitter enttäuscht werden, weil nur wenige Autoren tatsächlich einen solchen Rundgang zusammengestellt haben. Zu den Ausnahmen gehört nd-Redakteur Niels Seibert, der Interessierte auf die Spuren der Außerparlamentarischen Opposition in Westberlin schickt. Außerdem ist es zwar ein politisch korrekter Ansatz der Herausgeber, möglichst viele Zeitzeugen aus ihrer ganz eigenen Perspektive erzählen zu lassen. Manchmal ist das außerordentlich interessant, manchmal wird aber auch eine ziemlich fade Selbstdarstellung politischer Gruppen und Splittergruppen daraus und man wünscht sich, das lieber besser von einem versierten Historiker erzählt zu bekommen. Denn so entsteht ein stilistisches Kuddelmuddel. Auch die teils inhaltliche, teils chronologische Anordnung der Kapitel erschwert die Orientierung.

Trotz alledem ist es ein wertvolles, lesenswertes Buch, weil es vergangene und heutige Kämpfe nebeneinander stellt und damit auch Erfahrungen weitergibt, damit nicht jede Generation bei null anfangen muss.

Der Sammelband zeigt überdies ein Grundübel der linken Szene: Ihre beinahe permanente Zerstrittenheit, die dafür sorgt, dass bei allem Enthusiasmus die Kämpfe um eine bessere Stadt und eine bessere Welt oft nur geringe Fortschritte oder überhaupt nichts bringen. Viel zu oft wird gegenseitigen Angriffen innerhalb der linken Szene mehr Aufmerksamkeit geschenkt als der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Das war so und das ist so. Dabei zeigt der Sammelband auch eine Vielfalt und eine Kraft des Rebellischen, die nur produktiv genutzt werden müsste.

Panther & Co. (Hrsg.): Rebellisches Berlin. Expeditionen in die untergründige Stadt. Assoziation A, 838 S., 29,80 €

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