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Libertärer mischt Argentinien auf
Der 52-jährige Javier Milei geht als Shootingstar der Rechten in das Wahljahr 2023
Ein Löwenkopf ziert das Emblem von Javier Milei. In schwarzer Lederjacke springt der Shootingstar der argentinischen Rechten auf die Bühne. »Libertad. Libertad, Libertad!«, brüllt er ins Mikrofon. Rennt hin und her, mit zerzauster Löwenmähne. Sein Publikum johlt, der Funke ist übergesprungen. »Verdammte politische Kaste, Drecksäcke, Parasiten!«, schreit er und dass er niemals gegen die Freiheit und das Privateigentum vorgehen werde.
»Dürften bei der Präsidentschaftswahl 2023 nur die unter 30-Jährigen wählen, Milei würde die Wahl gewinnen«, sagt Lucas Romero vom Meinungsforschungsinstitut Synopsis in Buenos Aires. Befragt nach ihrer Wahlabsicht hätten 50 Prozent der U30-Stimmberechtigten Milei geantwortet. Allerdings stellt diese Altersgruppe nur rund 30 Prozent der Wahlberechtigten.
Der 52-jährige Milei genießt seine Auftritte. In seinem früheren Leben stand er als Rockmusiker einer Band auf der Bühne, die mit mäßigem Erfolg Rolling-Stones-Titel coverte. Im Juli 2021 gegründete er die Partei La Libertad Avanza, holte bei den Teilwahlen zum Kongress im November 2021 in der Stadt Buenos Aires 17 Prozent der Stimmen und wurde mit diesen 314 000 Stimmen auf Anhieb drittstärkste Kraft. Ein neuer Politstar war geboren.
Doch was auf den ersten Blick als enormer Erfolg erschien, relativiert sich bei näherer Betrachtung. Bezogen auf ganz Argentinien stellt der Wahldistrikt Stadt Buenos Aires nur acht Prozent der Wahlberechtigten. Landesweit hatten die Kandidat*innen der libertären und liberalen Rechten sieben Prozent der Stimmen geholt. Milei war ein auf die Hauptstadt begrenztes Phänomen. Ein Jahr später nennen landesweit über 20 Prozent aller Wahlberechtigten spontan Milei auf die Frage, wen sie wählen würden. »Milei hat es geschafft, in den Köpfen vieler Argentinier anzukommen«, bestätigt Meinungsforscher Romero.
Statt Buchhalter zu werden, wie es sein Vater wollte, der sich von unten zu einem wohlhabenden Busunternehmer hochgearbeitet hatte, studierte Javier Milei Wirtschaftswissenschaft. Bevor er in die Politik ging, tingelte er als Ökonom durch alle Tele-Talkshows, die ihn einluden. Und das waren viele. Seine stets aggressiven bis cholerischen Auftritte versprachen beim trockenen Thema Wirtschaft beste Unterhaltung und damit Quote.
Milei ist ein ausgezeichneter Kenner seiner Materie, extrem schlagfertig und in seinen Abrechnungen gnadenlos. Dabei ist er weder ein klassischer Liberaler noch ein neoliberaler Wirtschaftswissenschaftler, sondern ein Libertärer. Eine Unterscheidung, die auch viele Argentinier*innen nicht wahrnehmen oder gar verstehen. Milei beruft sich auf die österreichische Schule, die mit den Namen Carl Menger, Friedrich Hayek und Ludwig von Mises verbunden ist und die Anfang des 20. Jahrhunderts einen auf Wettbewerb basierenden freien Markt ohne staatliche Eingriffe propagierte.
Mileis Idol ist der US-Amerikaner Murray Rothbard, der Mitte des vorigen Jahrhunderts ausgehend von der österreichischen Schule den Begriff des Anarchokapitalismus prägte: ein freier Markt-Kapitalismus, in dem das Recht auf Privateigentum ein Naturrecht ist und der staatliche Eingriffe oder Regulierungen als quasi legalisierte Form von Diebstahl ansieht. Damit ist es nicht mehr weit bis zur Position, den Staat und dessen Vertreter zur kriminellen Vereinigung auszurufen. Für Milei sind Politiker*innen Teil einer parasitären Kaste. Das unterscheidet ihn von jenen rechten Strömungen, die auf einen Staat als Regulationsorgan setzen.
Mileis Anhängerschaft ist vor allem jung und männlich, studiert oder hat einen Uniabschluss. Sein Rückhalt bei jungen Frauen ist gering. Das ist nicht nur seinen machohaften Auftritten geschuldet. Milei vertritt konservative und anti-feministische Auffassungen, wie etwa ein Abtreibungsverbot bei Schwangerschaften. Bei der Wahl 2021 lagen seine höchsten Stimmenanteile in den reichsten und ärmsten Vierteln der Hauptstadt.
»Die Reichen sind sauer wegen eines Staates, der sich in alles einmischt, und die Armen wegen der ökonomischen Unsicherheit«, erklärt Lucas Romero. Dass er besonders junge Erwachsene anzieht, erklärt der Meinungsforscher mit einem Paradox. »In einem Land, in dem seit 20 Jahren nahezu ununterbrochen linke Regierungen an der Macht sind, ist es unter den Jungen nicht rebellisch, sich links zu positionieren.«
Milei ist ein politischer Außenseiter, auch wenn er seit nunmehr zwei Jahren als Abgeordneter im Kongress sitzt. Seine Allianz hält dort lediglich drei Mandate. Allerdings ist Argentiniens politische Landschaft rechts von der Mitte zerstritten. Noch ist nicht ausgemacht, ob sich eine rechte Parteienkoalition bildet, die sich auf eine gemeinsame Kandidatur einigt oder sich rechte Kandidaten gegenseitig die Stimmen streitig machen. Würde er als rechter Kandidat bei der Präsidentschaftswahl den Sprung in die Stichwahl schaffen, hätte er tatsächlich die Chance auf den Einzug in den Präsidentenpalast.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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