Rekorddividenden und Zukunftssorgen

Inflation und steigende Zinsen sorgten 2022 für schlechte Stimmung an den globalen Finanzmärkten

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 5 Min.

Jeder Jahreswechsel ist eigentlich die Hochzeit hoffnungsfroher Prognosen. Doch Vorsicht bleibt geboten. Womit wir bei Blackrock wären, der größten Kapitalsammelstelle der Welt. Der US-Finanzdienstleister, der Vermögenswerte von rund zehn Billionen US-Dollar betreut und unter anderem an allen Konzernen im Deutschen Aktienindex (Dax) beteiligt ist, buhlt mit einem hochgradig negativen Ausblick für das kommende Börsenjahr und die Weltkonjunktur 2023 um internationale Aufmerksamkeit. Blackrock-Chef Laurence »Larry« Fink rechnet mit der »schmerzhaftesten Rezession der Geschichte«. 

Immerhin steht die Wirtschaft des Westens vor großen Herausforderungen: drastisch gestiegene Energiepreise, der weggebrochene Markt in Russland, hohe Kosten der Energiewende, Risiken im China-Geschäft, dazu der grassierende Arbeitskräftemangel. »Kein Wunder also«, scherzt das »Handelsblatt«, »dass insbesondere die großen Börsenkonzerne angesichts dieser Zukunftsaufgaben jeden verfügbaren Euro in Dividenden stecken.« Nicht solche Investitionen haben oberste Priorität in den maßgeblichen Vorstandsetagen, sondern die Ausschüttungen an Aktionäre. Allein die mittlerweile 40 Dax-Konzerne in Deutschland werden im kommenden Frühjahr mehr als 50 Milliarden Euro an Dividenden überweisen – so viel wie nie, noch einmal sechs Prozent mehr als im Jahr vor dem Ukraine-Krieg. Dabei lagen die Dax-Kurse im ablaufenden Jahr mit gut zwölf Prozent deutlich im Minus.

Hierzulande war 2022 von Finanzskandalen geprägt. Den verschwundenen Milliarden des Zahlungsdienstleisters und früheren Dax-Stars Wirecard wird seit Dezember vom Münchner Landgericht in zunächst 100 Verhandlungstagen nachgespürt. »Cum-ex«, die mehrfache Erstattung von nichtgezahlten Steuern durch den Fiskus und die widersprüchlichen Gedächtnislücken von Bundeskanzler Olaf Scholz, werden im kommenden Jahr ebenfalls ein Dauerbrenner bleiben. 

International schreckte kürzlich die Insolvenz der ehemals zweitgrößten Kryptowährung-Börse FTX mit Sitz auf den Bahamas die Finanzmärkte auf. Gründer Sam Bankman-Fried gab sich lange als Idealist und wartet nun in den Vereinigten Staaten auf die Anklage wegen Betrugs und Veruntreuung von Kundenmilliarden.

Weit tiefgehender haben jedoch die hohe Inflation und die Reaktionen der Zentralbanken darauf die Stimmung in der Finanzwelt geändert. In der Eurozone kletterte die durchschnittliche Inflation auf den Rekordwert von 10,7 Prozent. Einige Länder wie die Schweiz und Japan verzeichnen weit niedrigere Werte – eine Folge anderer Wirtschaftsstrukturen und einer weniger konfrontativen Außenpolitik. Mit steigenden Leitzinsen versuchen nun die Europäische Zentralbank und die US-amerikanische Federal Reserve seit März beziehungsweise Juli, den Preisauftrieb zu bremsen. 

Doch angesichts einer heraufziehenden Rezession – Wirtschaftsforschungsinstitute erwarten erst für die zweite Jahreshälfte 2023 die Rückkehr auf einen Wachstumspfad – stecken die Zentralbanken in einer Zwickmühle. Weitere Leitzinserhöhungen belasteten Unternehmen und Investitionen zusätzlich, und die »Konjunktur im Kriechgang« (Stefan Kooths, Vizepräsident des IfW Kiel) könnte bald in Panikattacken auf den ohnehin extrem volatilen, also schwankungsanfälligen Finanzmärkten münden.

Zwar hat sich der Kapitalismus seit Anfang 2020 in Pandemie- und Kriegswirren wieder einmal als erstaunlich flexibel und robust gezeigt, doch die Herausforderungen werden, selbst wenn wir einige positive »disruptive« Überraschungen erwarten dürfen, eher größer als kleiner: Artensterben, die schwindende »Biodiversität«, erst recht der Klimawandel mögen im öffentlichen Bewusstsein angekommen sein. Das gilt aber kaum für weitere elementare globale Megatrends wie etwa die Verstädterung. Immer mehr Menschen leben in Städten, was Wasserverbrauch und Abfallmengen erhöht und zum Mangel an Wohnraum führt. Derweil will die wachsende Mittelklasse in Asien und Afrika mehr Rindfleisch, Autos und Kreuzfahrten konsumieren. Die abgenutzte Infrastruktur in der westlichen Welt und neue Projekte in den aufstrebenden Ländern erhöhen den Bedarf an Straßen, Flugplätzen und Glasfasertrassen. Die Demografie lässt Länder wie China, Japan und Deutschland altern, während andere wie Indien oder Marokko rätseln, wie sie den geburtenstarken Jahrgängen Bildung und Arbeit verschaffen sollen. Ein weiterer globaler Megatrend ist der Ressourcenmangel von gewöhnlichem Sand für den Hausbau über medizinische Grundstoffe bis hin zu Energie. 

Wachstum und neue Technologien könnten Abhilfe schaffen, versprechen Politiker, Wirtschaftswissenschaftler, Bank- und Versicherungsmanager. Neue Technologien und Wachstum schaffen aber gleichzeitig neue Probleme. So macht die wuchernde Komplexität des Kapitalismus ungezählt viele Menschen krank, was zwar die sogenannte Gesundheitsindustrie beflügelt, aber Depression, Krebs und Zeugungsunfähigkeit eher befördert als hemmt. 

Vielen und für vieles fehlt es am Geld. Die Fußballweltmeisterschaft in Katar hat ein kleines Schlaglicht auf die Welt außerhalb der vielen Wohlfühloasen geworfen, die es heute in jedem Land gibt. Es mangelt nicht an technischen Möglichkeiten, um der globalen Probleme Herr zu werden. Auch mangelt es im »finanzmarktgetriebenen Kapitalismus«, wie es der verstorbene linke Ökonom Jörg Huffschmid einst ausdrückte, nicht wirklich an Geld – wegen jahrzehntelanger Übergewinne, üppiger Finanzrenditen und geringer Steuerlasten. 

Die Wertschöpfung stammt nahezu vollständig aus der Realwirtschaft, doch ist das Volumen der Finanzwirtschaft heute größer denn je. Betrug noch um 1980 das monetäre Verhältnis der weltweiten Realwirtschaft 2:1 gegenüber der Finanzwirtschaft, liegt es heute bei schätzungsweise 1:4. Geld- und Devisenmärkte, Kredit- und Kapitalmärkte wären daher in der Lage, alle Herausforderungen dieser Welt zu finanzieren – bei entsprechender politischer Regulierung. Doch gegen eine solche hoffnungsfrohe Hochzeit werden Blackrock und Konsorten
Einspruch erheben. 

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.