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Atomausstieg als Erfolgsgeschichte
Streckbetrieb vertagt das AKW-Ende in Deutschland
Die Atomkraftnutzung in Deutschland wäre an diesem Sonnabend eigentlich Geschichte – zumindest, wenn es nach dem 2011 von CDU/CSU eingebrachten und von einer ganz großen Koalition im Bundestag verabschiedeten Ausstiegsgesetz ginge. Angesichts einer vorgeblichen Energiekrise und unter dem Druck von Union, FDP und einigen Industrieverbänden haben SPD und Grüne jedoch bekanntlich zugestimmt, dass die drei noch verbliebenen Atomkraftwerke am Netz bleiben: Die Reaktoren Emsland, Neckarwesheim-2 und Isar-2 sollen, vorerst bis Mitte April, weiter Strom produzieren.
Führende Freidemokraten haben bereits signalisiert, dass ihnen das nicht ausreicht. Sie fordern, die Meiler noch länger zu betreiben, vereinzelt wird gar die Reaktivierung bereits abgeschalteter Anlagen oder der Neubau von AKW verlangt. So weit wird es allerdings nicht kommen. In absehbarer Zeit wird in der Bundesrepublik kein Strom aus Atomkraftwerken mehr produziert werden. Zu teuer und zu langwierig wäre zudem der Bau neuer Anlagen, auch der zunächst befriedete Großkonflikt um die Lagerung des Atommülls würde bei einem Wiedereinstieg neu entbrennen.
Dass der Atomausstieg erfolgt, ist vordergründig auf die Katastrophe in Fukushima zurückzuführen. Nach dem Unglück im Frühjahr 2011 hatte die von Angela Merkel geführte Bundesregierung die erst kurz zuvor verfügten Laufzeitverlängerungen wieder einkassiert und einen Stufenplan zur Stilllegung der noch laufenden AKW erstellt. Mit der Abschaltung der letzten drei Anlagen sollte der Ausstieg am 31. Dezember 2022 vollzogen sein.
Eigentlicher Treiber des Ausstiegs ist aber seit einem halben Jahrhundert die Anti-AKW-Bewegung. Sie erreichte, dass Dutzende einst geplante Kraftwerke und andere Atomanlagen nicht gebaut wurden. Sie verhinderte den Bau von Wiederaufarbeitungsanlagen im Wendland und in Wackersdorf sowie eines Endlagers in Gorleben. Neue Reaktorlinien wie der Schnelle Brüter in Kalkar und der Thorium-Hochtemperaturreaktor in Hamm gingen auch dank des Widerstandes nicht in Betrieb oder wurden nach kurzer Betriebszeit stillgelegt.
Gleichzeitig stieß die Anti-AKW-Bewegung den Ausbau der erneuerbaren Energien an. Sie sorgte dafür, dass sich Wind und Sonne ungeachtet aller Torpedierungsversuche durch Konzerne und Regierungen als Energieträger etablieren konnten. Schon vor Jahren überholten Windkraft, Photovoltaik, Wasserkraft, Biomasse und Geothermie die Atomenergie.
Natürlich war es nicht die Anti-AKW-Bewegung selbst, die die Stilllegung der Meiler verfügte oder deren Betrieb unterbrach, die Baustopps anordnete oder Planungen stoppte. Es waren Regierungen und Parlamente, Gerichte und Behörden oder, wie im Fall von Wackersdorf, die Industrie selbst. Aber die Anti-AKW-Bewegung hat diese Entscheidungen durch ihre Aktionen, ihre Kreativität, ihre Mobilisierungsfähigkeit und ihren langen Atem erzwungen – gegen mächtige Konzerne, gegen den Staat und anfangs auch gegen alle politischen Parteien.
Über ihr originäres Anliegen hinaus hat die Anti-AKW-Bewegung Grundrechte erstritten und verteidigt. Exemplarisch dafür steht der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1985. In seinem Urteil traf das Gericht weitreichende und grundlegende Aussagen zur Bedeutung der Versammlungsfreiheit und des Demonstrationsrechtes.
Ihre Erfolge konnte die Bewegung durch die Vielfalt ihres Widerstandes erreichen. Vor allem dann, wenn Menschen aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft sich im Widerstand radikalisierten und bereit waren, Gesetze zu übertreten. Das gilt für die Winzer bei der Bauplatzbesetzung in Wyhl ebenso wie für die Bauern aus dem Wendland bei Treckerblockaden und Ankett-Aktionen oder für die vielen »bürgerlichen« Teilnehmer an Massensitzblockaden auf Straßen und Schienen. Die Anti-AKW-Bewegung knüpfte einerseits an die populären Aktionsformen der studentischen 68er-Bewegung an und entfachte andererseits die Diskussion um eine »bessere Gesellschaft« jenseits von Kapitalismus und realem Sozialismus neu. Es gelang ihr, aus einer eher defensiven Stoßrichtung – »Atomkraft nein danke!« – eine offensive gesellschaftliche Perspektive zu schaffen, wobei Utopien von neuen Lebensformen und -inhalten entstanden: Basisdemokratie und Konsensprinzip, Ablehnung materieller Erfolgsorientierung, ökologischer Umbau der Industrie, Dezentralisierung der Energieversorgung und anderes mehr. Dies resultierte auch aus frühen Verbindungen zur – orientierungslos gewordenen bzw. nach neuen Aktionsfeldern suchenden – Linken sowie zu konservativen Naturschützern, denen spätestens an der AKW-Frage klar wurde, dass es einen »unpolitischen« Naturschutz nicht geben kann.
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War die Bewegung wie in Wyhl zunächst noch stark regional geprägt und zielte vorrangig auf den Schutz der eigenen Lebensumgebung, ging es durch den Kontakt zur Freiburger studentischen Szene und Erfahrungen mit der Staatsgewalt bald in Südbaden um mehr. Spätestens in Brokdorf entwickelte sich die Auseinandersetzung um die Atomkraft zu einer Rebellion gegen das kapitalistische System und gegen den technokratischen Obrigkeitsstaat, den »Atomstaat«. Die Anti-AKW-Bewegung wurde zum Forum, auf dem sich die unterschiedlichen Strömungen begegneten, austauschten, stritten – zum Teil allerdings auch gegenseitig lähmten. Ihre radikale politisch-gesellschaftliche Kritik, ihre Offenheit für Utopien und nicht zuletzt ihre Bündnisfähigkeit und enge Verbindung mit anderen emanzipatorischen Bewegungen trugen maßgeblich zu ihrem Erfolg bei.
Trotz Ausstiegs braucht es den langen Atem der Bewegung. Das zeigt nicht nur die noch offene Endlagerfrage. Der Umweltverband BUND wies am Donnerstag auf die Risiken des »Streckbetriebs« für die drei letzten AKW hin: »Atomkraft ist eine Hochrisikotechnologie – da darf es keine Experimente geben.« Schon jetzt zeige sich, dass »die maroden Reaktoren massive Sicherheitsmängel aufweisen und der geplante Betrieb sicherheitstechnisch große Fragen aufwirft«.
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