Neujahrsvorsatz: Mehr kiffen

Eine Menge interessanter linker Entwicklungen weltweit werden medial kaum zum Thema gemacht, kritisiert Sheila Mysorekar

Jetzt, wenn ich die erste Risikosituation des neuen Jahres heil überstanden habe – besoffene Typen, die mit Sprengstoff hantieren – bin ich ganz zuversichtlich, was die restlichen 360plus Tage angeht.

Woran ich mich zum Beispiel freue: In Lateinamerika gibt es fast überall linke Regierungen, so etwa in Chile, Bolivien, Argentinien, Mexiko und Kolumbien. Zum ersten Mal in Kolumbien! Ein ehemaliger Guerillero regiert das Land, was noch vor kurzem undenkbar schien. Nur in Peru haben rechte Abgeordnete kürzlich den linken Präsident Castillo des Amtes enthoben; es gibt jedoch eine Menge Widerstand dagegen, worüber hier nicht viel berichtet wird. Und am 1. Januar wurde Lula in Brasilien als Präsident vereidigt, der nun zum dritten Mal regiert. Also lauter gute Nachrichten aus Lateinamerika.

Sheila Mysorekar
Sheila Mysorekar ist Journalistin und war langjährige Vorsitzende der Neuen deutschen Medienmacher*innen. Heute ist sie Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, einem bundesweiten Netzwerk aus rund 180 postmigrantischen Organisationen. Für »nd« schreibt sie die monatliche Medienkolumne »Schwarz auf Weiß«.

In der Zeit der lateinamerikanischen Militärdiktaturen in den 1970ern und 1980ern konnte der Neoliberalismus als Wirtschaftsform ungehindert – nämlich mit Waffengewalt – durchgesetzt werden, lange bevor dies auf anderen Kontinenten ebenfalls die gängige Wirtschaftspolitik wurde. Massive Verarmung und das Verschwinden der Mittelschicht als typische Folgen der neoliberalen Wirtschaft konnte man beispielweise in Chile und Argentinien schon vor etlichen Jahrzehnten beobachten. Eben genau deswegen sind uns die Lateinamerikaner*innen nun auch voraus, die Konsequenzen daraus zu ziehen: nämlich linke Regierungen zu wählen.

Der kolumbianische Präsident Gustavo Petro hat es gerade geschafft, mit fünf bewaffneten Gruppen einen sechsmonatigen Waffenstillstand zu vereinbaren; auch mit zwei Dachverbänden rechtsextremer Paramilitärs, die inzwischen »normale« Verbrecherbanden sind. Das ist der Durchbruch, der den Weg zu einem tatsächlichen Frieden in Kolumbien ebnen könnte – nach mehr als 60 Jahren Bürgerkrieg. Warum wird das nicht gefeiert?! Wo sind die Titelgeschichten der Zeitungen, die Aufmacher in den Fernsehnachrichten? Nichts, nada.

Vielleicht liegt es daran, dass das Wissen fehlt, um die Einordnung fachgemäß vornehmen zu können. Außenpolitik-Ressorts blicken in der Regel auf Europa, die USA, Russland und China; alles andere wird marginal behandelt. Das ist jedoch ein großer Fehler. Ebenso wie die verheerenden Folgen der neoliberalen Wirtschaftspolitik für die Menschen in Lateinamerika bereits beobachtet werden konnten, bevor sich diese Marktideologie auch in Westeuropa durchsetzte, könnten wir jetzt in Echtzeit verfolgen, wie wegweisend linke Politik sein kann, und uns davon inspirieren lassen. Aber viele Politikredaktionen sind nicht divers; sie nutzen nicht die transkontinentalen Kompetenzen, Kontakte und Wissen von Medienschaffenden aus internationalen Familien.

Stände der globale Süden mehr im medialen Fokus, wäre der deutschen Presse klar, dass unsere Außenpolitik nicht immer Menschenrechte als oberste Priorität setzt. Eigentlich müsste auf jeder Pressekonferenz Annalena Baerbock die Frage gestellt werden, wieso nach wie vor vom US-Militärstützpunkt Ramstein aus Drohnenangriffe in Afghanistan, Jemen oder Somalia gesteuert werden. Drohnenkriege sind völkerrechtswidrig. Deutschland ist also mitverantwortlich, wenn Bombardierungen von Ramstein aus dirigiert werden.

Wir brauchen mehr medialen Druck auf die Bundesregierung, ihren vielverheißenden Koalitionsvertrag doch bitte endlich umzusetzen. Zum Beispiel in Bezug auf Völkerrechte, aber auch etwa bei der Legalisierung von Cannabis. Ich bin sicher, ich würde mehr kiffen, wenn ich legales Gras einfach so zwischen meinen Einkäufen bei »dm« und »Rewe« besorgen könnte. Und mehr kiffen würde mir auf jeden Fall zu größerer Gelassenheit verhelfen, wenn mich die Politiknachrichten wieder einmal zur Weißglut treiben.

Mit der Legalisierung von Cannabis können wir uns schon jetzt auf Silvester 2023 freuen: Anstatt dass jeder Besoffene mit maximaler Aggression seine eigene Boden-Luft-Raketen und Großkaliberwaffen aus Rheinmetall-Beständen abfeuert, sind die Straßen voller friedlich bekiffter Menschen, die sich an einzelnen Wunderkerzen erfreuen. Also, ich bin zuversichtlich fürs neue Jahr. Bis jetzt noch.

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