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»Wir haben uns zu sehr aufs Trauern beschränkt«
Jens-Christian Wagner sieht mangelndes Geschichtsbewusstsein als einen Grund für das Erstarken rechter Protestbewegungen
Herr Wagner, wenn Sie sehen, dass Menschen mit umgedrehten Deutschland-Fahnen, mit sogenannten Judensternen auf ihrer Kleidung, mit Reichsbürgersymbolen auf die Straße gehen: Wie blicken Sie auf solche Proteste?
Jens-Christian Wagner ist Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Der Historiker hat zudem die Professur für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena inne. Der 56-Jährige beobachtet die rechte Proteste in Deutschland genau, seien es Demonstrationen gegen Geflüchtete, gegen Corona-Beschränkungen oder gegen die deutsche Politik angesichts des Ukraine-Kriegs.
Wenn ich das sehe, dann mache ich mir große Sorgen. Denn letztlich wird da der liberale Rechtsstaat angegriffen, da werden die Grundlagen unseres friedlichen, humanen und auf Vielfalt ausgerichteten Zusammenlebens verächtlich gemacht. Was sich bei diesen Protesten zusammenfindet, ist ja eine sehr breite und krude Mischung, die vor allem eines vereint: Ressentiments gegen die westliche Demokratie. Aber diese Demokratie ist eine der zentralen Schlussfolgerungen, die wir in Deutschland aus der Zeit des Nationalsozialismus gezogen haben.
Überrascht es Sie, dass es derartige Proteste in Deutschland gibt? Immerhin gab es in beiden deutschen Staaten nach 1945 immer Menschen, die dem Nationalismus gar nicht so kritisch gegenüberstanden oder ihn sogar befürwortet haben, gerade auch in den 1950er und 1960er Jahren.
Das stimmt, aber in diesen beiden Jahrzehnten hatten wir es bei der Nicht-Distanzierung vom Nationalsozialismus oder seiner Verherrlichung vor allem mit den klassischen Abwehrreflexen einer Generation zu tun, die selbst in die NS-Verbrechen verstrickt war. Die wollte mit eigener Verantwortung und eigener Schuld nicht konfrontiert werden. Heute ist die Lage eine andere. Jetzt haben wir es mit Generationen zu tun, die selbst keine Schuld an den NS-Verbrechen mehr treffen kann – und die sich trotzdem in Abwehrreflexen üben, in Schuldumkehr. Das überrascht mich schon. Besonders auch, weil so viele Menschen mitmachen. Und weil das so schnell gegangen ist. Schauen Sie doch, wie sich dieses Protestgeschehen seit Beginn der Corona-Pandemie 2020 radikalisiert hat. Und welche bekannten Konstrukte dort wieder eine große Rolle spielen.
Welche sind das?
Zum Beispiel der Antisemitismus. Der kommt in fast jeder der Verschwörungserzählungen vor, die auf Protestdemonstrationen propagiert werden. Etwa, wenn der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zu einem »Verteidigungskrieg Russlands« gegen irgendwelche »globalistischen Eliten« gemacht wird. Das sind antisemitische Codes. Ich dachte wirklich, bei der Überwindung solcher Vorstellungen wären wir als Gesellschaft weiter. Aber offensichtlich ist ein nicht unwesentlicher Teil der Bevölkerung abgedriftet in eine Ablehnung all dessen, was wir in den vergangenen Jahrzehnten eigentlich als progressive, demokratische Errungenschaften betrachtet haben.
Haben Sie eine Erklärung dafür?
Es gibt dafür sicherlich vielfältige Gründe. Die Radikalisierung auf der Straße hat viel mit den sozialen Netzwerken und Medien zu tun. Da werden Fake-News und Fake-History …
… also Falschmeldungen und falsche historische Erzählungen …
… oft unwidersprochen verbreitet, was viele Menschen offenbar ziemlich unkritisch und unreflektiert aufnehmen.
Ihr Verweis auf die sozialen Medien zeigt eher ein Instrument dieser Radikalisierung. Aber worin wurzelt sie? Sind diese Verschwörungserzählungen, ist diese Schuldumkehr vielleicht innerhalb von Familien über Jahrzehnte hinweg weitergegeben worden?
Man kann schon sagen, dass wir uns gesamtgesellschaftlich – nicht in der Geschichtswissenschaft, da ist das sehr klar herausgearbeitet worden – zu wenig damit befasst haben, wie die NS-Gesellschaft eigentlich funktioniert hat. Das war eine Gesellschaft, die radikal rassistisch formiert gewesen ist und auf zwei Säulen stand: Integrationsangebote für all jene, die zur propagierten sogenannten Volksgemeinschaft gehörten – und Ausgrenzung, Verfolgung und Mord gegenüber denjenigen, die für nicht dazugehörig erklärt wurden. Wir haben uns gesamtgesellschaftlich viel zu sehr darauf beschränkt zu trauern, ohne nachzudenken. Natürlich ist es richtig, beim Gedenken die Opfer in den Mittelpunkt zu stellen. Aber wir haben zu wenig gefragt, warum diese Menschen zu Opfern wurden und wer sie dazu gemacht hat. Statt nach den Tätern zu fragen, identifizieren sich viele mit den Opfern. Das ist an sich schon eine Anmaßung aus der Post-Täter-Gesellschaft heraus. Aber wie die eigenen Familien – die in der Regel Teil der propagierten Volksgemeinschaft waren – sich im Nationalsozialismus verhalten haben, das ist viel zu wenig beachtet worden. Wie die eigenen Vorfahren an Ausgrenzung beteiligt waren, nicht wenige ja sogar an der Verfolgung und am Morden – da gibt es große Lücken in der Erinnerungskultur.
Muss sich nicht auch die Geschichtswissenschaft Vorwürfe machen, zumindest indirekt für diese Defizite mitverantwortlich zu sein? Denn offenbar ist ja vorhandenes Wissen in den vergangenen Jahren nicht ausreichend aus den Universitäten in die Breite der Gesellschaft gelangt.
Da haben Sie recht, das muss man deutlich so sagen. Dafür, dass historisches Wissen aus den Universitäten nicht in die Breite der Gesellschaft gelangt ist, sind auch Defizite im Schulunterricht verantwortlich. In den meisten Bundesländern ist in den vergangenen Jahren der Geschichtsunterricht teilweise stark zurückgefahren worden. Und dieser Zustand hat etwas mit ritualisierten, pathoshaften Formeln an Gedenktagen zu tun. Und mit der einseitigen Fokussierung auf die Opfer, ohne zu fragen, warum diese Menschen zu Opfern wurden. Wir haben viel zu viel auf die Leichenberge geblickt, die die Alliierten bei der Befreiung der Konzentrationslager gefunden haben, auf die Gaskammern in Auschwitz. Aber wir haben nicht ausreichend gefragt, wer eigentlich das Zyklon B in diese Gaskammern hineingeworfen hat, wer das hergestellt hat.
Trotzdem ist es aber so, dass fast niemand ein »Nazi« oder »Neonazi« oder »Faschist« genannt werden will.
Genau. Das macht die Sache und besonders auch die Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen, gegen Einwanderung, gegen die deutsche Politik im Angesicht des Ukraine-Krieges geradezu bizarr. Fast alle Teilnehmer nehmen für sich in Anspruch, kein Nazi oder Faschist zu sein. Manche von denen stellen sich selbst sogar als Antifaschisten dar. Aber trotzdem erfüllt vieles, was auf den »Spaziergängen« zu sehen und zu hören ist, Merkmale faschistischer Ideologie und Praxis. Auch das ist eine Folge des nicht mehr oder noch nicht vorhandenen umfassenden Geschichtsbewusstseins.
Können Sie das an einem Beispiel erklären?
Schauen Sie zum Beispiel auf »Jana aus Kassel«.
Sie meinen die damals 22-Jährige, die sich auf einer Querdenker-Demonstration Ende 2020 mit Sophie Scholl verglich?
Genau. Diese junge Frau hat ja offenbar schon mal was vom Nationalsozialismus und auch von der Widerstandsgruppe Weiße Rose gehört. Sonst wäre sie nicht auf die merkwürdige Idee gekommen, sie sei so was wie die Reinkarnation von Sophie Scholl und man könne die angebliche Corona-Diktatur mit der NS-Diktatur gleichsetzen. Das heißt, rudimentäre Kenntnisse der deutschen Geschichte sind bei vielen Menschen zwar vorhanden. Aber der analytische Blick auf diese Vergangenheit fehlt bei solchen Personen völlig.
Wie sollte man also aus Ihrer Sicht mit diesen Protesten umgehen, die seit der Flüchtlingsbewegung 2015/2016 nie ganz weg waren und die seit Beginn der Corona-Pandemie eigentlich wieder kontinuierlich sichtbar sind?
Es ist erst mal wichtig festzustellen, dass dort tatsächlich seit damals immer die gleiche Klientel auf der Straße ist: nicht sehr jung, überwiegend männlich und in Ostdeutschland häufiger als in Westdeutschland. Auf dieser Feststellung aufbauend ist es wichtig, dass wir diejenigen durch Gespräche und auch durch Bildungsangebote zu erreichen versuchen, die noch nicht in dieses Milieu abgedriftet sind. Das sind zum Beispiel Menschen, die berechtigte Sorgen haben, ihre Heizungsrechnung nicht mehr bezahlen zu können, die aber nicht oder jedenfalls noch nicht von einem Systemumsturz träumen. Diejenigen allerdings, die fest in einem verschwörungsideologischen, antisemitischen Gedankengebäude sitzen, die werden wir nur sehr schwer dort wieder herausbekommen.
Sie plädieren also für eine klare Trennlinie?
Natürlich. Denn es wäre falsch, diese Proteste als Ausdruck von Menschen misszuverstehen, die nur ihre Sorgen kundtun würden. Mit so einer Sicht würde man sie bagatellisieren. Diese Leute marschieren wissentlich – auch wenn sie selbst behaupten, das sei nicht so – mit Rechtsextremisten und Antisemiten. Wer mit solchen Leuten auf die Straße geht, sägt an den Grundlagen unserer liberalen, humanen und auf Vielfalt beruhenden Gesellschaft. Wer mit Rechtsextremen marschiert, stellt sich außerhalb des demokratischen Grundkonsenses. Mit solchen Leuten zu diskutieren, macht verschwörungsideologische und antisemitische Narrative gesellschaftsfähig. Das darf nicht sein.
Spiegelt sich das, was auf der Straße in Deutschland passiert, auch bei Ihnen in den Gedenkstätten wider?
Wir nehmen auch dort sehr deutlich die Auswirkungen des verschwörungsideologischen Protests auf der Straße und auch das Agieren des parlamentarischen Arms dieses Protests wahr, also der AfD. Diese Partei hat in Thüringen und Sachsen bei Landtagswahlen ein Potenzial von 25 bis 30 Prozent. Auch das muss uns mit großer Sorge erfüllen. Selbst wenn das im Umkehrschluss bedeutet, dass ungefähr drei Viertel bis zwei Drittel der Menschen in diesen Ländern die Positionen nicht vertreten, die die AfD vertritt und die bei den Protesten artikuliert werden.
Wie merken Sie das denn in den Gedenkstätten?
Im Rahmen der Führungen oder Projekte, die wir anbieten, haben wir es im Vergleich zu vor fünf oder sechs Jahren mit immer mehr Störungen zu tun. Da werfen Besucherinnen und Besucher zum Beispiel Thesen in den Raum, mit denen NS-Verbrechen mit angeblichen Verbrechen heutzutage gleichgesetzt werden. Zum Beispiel kam im Winter 2020/21 der Vorwurf: »Wir könnt ihr hier über die Ausgrenzung im Nationalsozialismus sprechen, wenn ihr hier über die 2G-Regelung genauso ausgrenzt, wie die Nazis das gemacht haben.« Da fallen da auch schon mal Sätze wie: »Ihr seid doch die neuen Nationalsozialisten.« Oder: »Ihr seid auch nicht besser als Doktor Mengele.« So was wird dann im Brustton der Überzeugung und mit großer Aggressivität vorgetragen. Man spürt dann wirklich eine gewisse Verrohung der Gesellschaft. Dazu kommen Hass-E-Mails oder -Briefe, die wir bekommen, in denen solche Thesen vertreten werden.
Und tätliche Angriffe?
Auch die gibt es regelmäßig auf die Gedenkstätte und ihre Symbole. Denken Sie an die Baumschändungen im Sommer. Oder Hakenkreuz-Schmierereien. Das ist zuletzt deutlich massiver aufgetreten als noch vor einigen Jahren. Wir erleben gerade eine Radikalisierung, die – und da schließt sich der Kreis – uns alle mit tiefster Sorge erfüllen muss. Anschläge, die solchen Radikalisierungen gefolgt sind, gab es nicht nur in den 1990er Jahren. Denken Sie an die Taten in Hanau oder in Halle.
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