Es bleibt eine Reihe von Baustellen

Ökonomen warnen vor Risiken in diesem Jahr

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 4 Min.

Eigentlich ist die deutsche Wirtschaft trotz des Krieges in der Ukraine doch recht gut durch das Jahr 2022 gekommen: Eine Gasmangellage ist bisher nicht eingetreten, stattdessen ist der europäische Gaspreis in den letzten Tagen auf Vorkriegsniveau gefallen und die Gasspeicher füllen sich auch dank des milden Wetters wieder.

So gehen Konjunkturexpert*innen nur noch von einer eher milden Rezession in diesem Jahr aus. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung rechnet mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung von 0,3 Prozent. Zum Vergleich: Im Coronajahr 2020 schrumpfte die hiesige Wirtschaft um 4,9 Prozent.

Doch für eine Entwarnung ist es laut den IMK-Ökonom*innen noch zu früh. »Die wirtschaftlichen Schocks, die der russische Überfall auf die Ukraine ausgelöst hat, sind auch in Deutschland hart und schmerzhaft, und sie sind längst nicht vorbei«, warnte IMK-Direktor Sebastian Dullien am Donnerstag bei der Vorstellung einer Studie über die Herausforderungen im gerade begonnenen Jahr 2023. Mögliche Probleme könnten demnach insbesondere die Geldpolitik der Europäische Zentralbank (EZB), die soziale Unausgewogenheit der Entlastungsmaßnahmen sowie der »Inflation Reduction Act« (IRA) der US-Regierung bereiten. Doch auch bei der Energiewende, bei Tarif- und Arbeitsmarktpolitik gibt es Baustellen, die laut dem IMK angegangen werden müssen.

Dullien und seinen Kolleg*innen zufolge stellen die im Zuge des Ukraine-Krieges gestiegenen Energiepreise keinen Produktivitätsschock dar, sondern einen sogenannten Terms-of-Trade-Schock. Das heißt, es werden nicht unbedingt weniger Waren produziert, stattdessen reichen die Unternehmen die gestiegenen Preise der importierten Energie an ihre Kund*innen weiter. Diese Einschätzung ist wichtig bei der Frage, wie auf die horrende Inflation reagiert werden sollte. Statt einer kräftigen Anhebung der Zinsen durch die EZB rät das IMK deswegen eher zu einer Stützung der Nachfrage durch die Politik.

Denn Geldpolitik kann nur effektiv etwas gegen die Inflation machen, wenn die Konjunktur überhitzt ist und die Produktion nicht mehr der Nachfrage hinterherkommt. Stattdessen bergen höhere Zinsen das Risiko, dass die Konjunktur zusätzlich abgewürgt wird. »Eine Geldpolitik, die die Zügel zu straff anzieht, könnte die Erfolge des bisherigen Krisenmanagements in Frage stellen, ohne ihr Ziel zu erreichen«, warnt Dullien.

Seit vergangenen Sommer erhöhte die EZB den Leitzins von null auf 2,5 Prozent an. Zuletzt hob sie die Zinsen Mitte Dezember um 0,5 Prozentpunkte an und kündigte weitere Maßnahmen an. »Natürlich ist die starke Teuerung ein großes Problem und ganz besonders für Menschen mit niedrigeren oder mittleren Einkommen«, so Dullien. Aber niemand habe etwas davon, »wenn durch zinspolitischen Aktionismus die Konjunktur noch stärker ausgebremst wird und die Stabilität auf dem Arbeitsmarkt verloren geht«.

Das IMK rät deshalb, bei Bedarf weitere Entlastungen konzentriert an stark bedürftige Haushalte zu leisten. Denn zum einen sieht das IMK in den Entlastungsmaßnahmen einen wichtigen Grund, warum die deutsche Wirtschaft bisher so gut durch die Krise gekommen ist. Ihren Berechnungen zufolge belief sich das Volumen der Maßnahmen im vergangenen Jahr auf 49,8 Milliarden Euro beziehungsweise 1,3 Prozent der Wirtschaftleistung und könnte im laufenden Jahr 134,8 Milliarden Euro beziehungsweise 3,4 Prozent betragen. Doch gleichzeitig waren die bisherigen Maßnahmen sozial unausgewogen, moniert das IMK.

»Wenig verteilungspolitisch zielgenau sind bislang die Preisbremsen bei Gas und Strom ausge-staltet«, schreiben die IMK-Forschenden in ihrer Studie. Hier können alle Haushalte im Umfang
von 80 Prozent ihres Vorjahresverbrauchs von einem Preisdeckel profitieren. »Da der Energieverbrauch tendenziell mit dem Einkommen zunimmt, wirken die Strompreisbremse und die Gaspreisbremse erst einmal deutlich regressiv«, so weiter in der Studie. Das heißt, dass reiche Haushalte unterm Strich in Euro stärker entlastet werden als arme, weil sie mehr Energie verbrauchen. »Vor dem Hintergrund, dass nicht nur die Gaspreisbremse verteilungspolitisch verbesserungswürdig ist, sondern ein großer Teil der Entlastungen vom Tankrabatt bis zur Strompreisbremse, könnte man alternativ dem Vorschlag des Sachverständigenrats folgen, vorübergehend einen Energiesoli zu erheben oder den Spitzensteuersatz anzuheben«, schlägt deshalb das IMK vor, um reiche Haushalte stärker an der Finanzierung der Krisenkosten zu beteiligen.

Eine längerfristige Herausforderung stellt laut IMK das IRA-Investitionspaket der US-Regierung dar. Mit insgesamt 369 Milliarden US-Dollar will sie in diesem Rahmen die heimische Wirtschaft und die Energiewende unterstützten. Diesseits des Atlantiks kommt das Paket aber nicht gut an. Die europäische Wirtschaft sieht sich dadurch benachteiligt. In den letzten Wochen des vergangenen Jahres hat sich deshalb der Streit zwischen der EU und den USA über das IRA zugespitzt. Kritisiert werden vor allem die Bedingungen, an die die Förderung von E-Autos geknüpft ist. So wird die volle Fördersumme nur gewährt, wenn ein bestimmter Wertschöpfungsanteil der verbauten Batterien in Nordamerika erbracht wird.

Das IMK rät davon ab, den Handelkonflikt eskalieren zu lassen. Stattdessen sollte die EU die
industriepolitische Offensive der US-Regierung aber zum Anlass nehmen, »ihrerseits eine aktivere Industriepolitik zu betreiben, um Wirtschaft und Gesellschaft in Europa hin zur Klimaneutralität zu transformieren und damit zukunfts- und krisenfester zu machen«, so die Forschenden.

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