Die DHB-Deckung muss stehen

Die deutschen Handballer zählen nicht zu den Favoriten bei der WM in Polen und Schweden. Vor allem in der Offensive fehlt Qualität

  • Erik Eggers
  • Lesedauer: 5 Min.
Kreisläufer Johannes Golla und seine Mannschaftskollegen wollen gegen Island ihre WM-Tauglichkeit testen.
Kreisläufer Johannes Golla und seine Mannschaftskollegen wollen gegen Island ihre WM-Tauglichkeit testen.

Der Bundestrainer wollte den Handballprofis den Druck etwas nehmen, als er sie auf das kommende Championat einstimmte. Er werde in der Öffentlichkeit stets betonen, wie düster die Aussichten des Teams beim kommenden Turnier seien, sagte der Isländer Alfreð Gíslason. Aber er sei in Wahrheit überzeugt davon, dass sie eine Überraschung vollbringen können. »Mein Ziel ist ganz klar, eine Medaille zu holen. Es liegt nur an uns.«

Eine Medaille. Das klingt verwegen angesichts der derzeitigen Machtverhältnisse im Welthandball. Fragt man den dänischen Nationaltrainer Nikolaj Jacobsen, welche Mannschaft denn mit dem Titelverteidiger aus Dänemark bei der anstehenden WM in Polen und Schweden (11. bis 29. Januar) um den Titel streite, nennt er Schweden, Norwegen, Island, Spanien und auch Frankreich. Die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB)? Das sei ein spannendes Team, sagt Jacobsen.

Die deutschen Handballer, die 1938, 1978 und 2007 den WM-Titel gewannen, fliegen jedenfalls als klarer Außenseiter nach Katowice, wo sie am 13. Januar zunächst auf Asienmeister Katar treffen, danach auf Serbien und Algerien. Rechtsaußen Patrick Groetzki gibt das Viertelfinale als Minimalziel aus. Ein Understatement ganz im Sinne des Bundestrainers. Aber die flammende Rede Gíslasons ist ohnehin nicht aktuell. Vielmehr stammt sie aus einem Film, den der DHB im vergangenen Jahr drehen ließ, vor der EURO 2022 in Bratislava, und nun ins Netz stellte.

Das Turnier vor zwölf Monaten endete bekanntlich im Chaos, die Hälfte des Teams fiel wegen Corona-Infektionen aus. Nun, da die Pandemie ihrem Ende entgegengeht, besteht erneut die Gefahr von Ausfällen, da der Weltverband IHF an einem strengen Kontroll-Regime festhält. Kritisiert wird das nicht nur vom schwedischen Co-Trainer: »Es ist eine verdammte Schande, wenn man die WM zu Hause spielt und nicht so leben kann, wie wir sonst in Schweden leben«, sagte Mikael Appelgren. Stars wie Torhüter Niklas Landin teilten das.

Ungeachtet dieser Risiken sind die Hoffnungen vieler Handballfans dennoch groß. Die beiden letzten Testspiele am Samstag in Bremen und Sonntag in Hannover sind ausverkauft. Gegner Island ist allerdings auch ein echter Maßstab: Die Männer aus dem Nordatlantik zählen nicht nur für Gíslason zu den heißen Kandidaten für das Halbfinale. Schließlich verfügen sie über enorme Qualitäten im zentralen offensiven Mannschaftsteil, dem Rückraum – und dies, obwohl ihr Supertalent Haukur Thrastarsson (Kielce) verletzt ausfällt. Aber neben Routinier Aron Pálmarsson (Aalborg), der mit dem THW Kiel zweimal die Champions League gewann, verkörpert auch der Magdeburger Linkshänder Ómar Ingi Magnússon, der auf der Insel jüngst zum Sportler des Jahres gewählt wurde, absolute Weltklasse.

Das führt zu dem größten Problem des deutschen Männerhandballs seit Jahren: Tatsächlich stehen Gíslason solche Ausnahmespieler im Rückraum schlicht nicht zur Verfügung. Die größten Hoffnungen, dass sich daran etwas ändern könnte, personifiziert noch der junge Juri Knorr, der bei den Rhein-Neckar Löwen eine grandiose Hinserie spielte. Auch der Halblinke Julian Köster, der in Gummersbach seine erste Bundesligasaison bestreitet, zeigte sich formstark.

Fakt ist jedoch, dass bis auf Philipp Weber derzeit kein deutscher Rückraumakteur auf Klubebene in der Champions League unterwegs ist, und der Rechtshänder zählt in Magdeburg nicht zu den Entscheidungsspielern. Mit Christian Dissinger ist zwar noch ein zweiter Deutscher bei einem Champions-League-Klub beschäftigt, aber der Europameister von 2016 steht bei Dinamo Bukarest auf dem Abstellgleis – und besaß daher keine Chancen auf eine Nominierung.

Umso größer ist das Unverständnis bei den DHB-Verantwortlichen, dass sich einige deutsche Profis, die zweifellos Weltklasse darstellen, aus der Nationalmannschaft zurückgezogen haben. Das betrifft die Kieler Kreisläufer Hendrik Pekeler und Patrick Wiencek genauso wie ihren Teamkollegen, Rückraum-Linkshänder Steffen Weinhold. Er kenne solche Fälle aus dem skandinavischen Handball nicht, klagte Gíslason, dort wollten alle unbedingt für ihr Land auflaufen.

Insbesondere die Absage von Fabian Wiede von den Füchsen Berlin sorgte zuletzt für großen Ärger. Dass der Europameister von 2016 seinen WM-Verzicht mit einer Kieferoperation begründete, provozierte Kopfschütteln. »Man stelle sich vor, ein Thomas Müller hätte wegen einer solchen Geschichte auf die Fußball-WM verzichtet«, sagte DHB-Sportvorstand Axel Kromer. »Da gibt es so was nicht. Ich finde Wiedes Entscheidung nicht gut, aber ich habe kein Vertragsverhältnis mit ihm.«

Die drei Linkshänder auf Wiedes Position, Kai Häfner, Djibril M’Bengue und Christoph Steinert, spielen mit ihren Klubs nicht auf europäischer Ebene. Der clevere und erfahrene Häfner war immerhin eine wichtige Stütze beim letzten Triumph der DHB-Auswahl: dem sensationellen EM-Titel 2016 in Krakau.

Auf Stars im Rückraum, wie sie sich neben Island auch in Dänemark (Mikkel Hansen, Mathias Gidsel), Schweden (Jim Gottfridsson), Norwegen (Sander Sagosen) oder Frankreich (Dika Mem) finden, kann Gíslason jedenfalls nicht zurückgreifen. Solche Ausnahmespieler verändern die Lage aber allein durch ihre Präsenz und Anwesenheit. Aufgrund der Torgefahr, die sie ausstrahlen, schaffen sie wichtige Räume am Kreis und auf den Flügeln. Wenn dieser Druck aus dem Rückraum nicht da ist, dann fehlen auch dem besten deutschen Individualisten ein paar Zentimeter am Kreis. Dann muss Kreisläufer Johannes Golla noch stärker um jeden Ball kämpfen. Und auch die Links- und Rechtsaußen erhalten weniger freie Würfe.

Vor diesem Hintergrund muss das deutsche Team vor allem auf eine starke Abwehr bauen, auf einen starken Mittelblock, der im Zusammenspiel mit den Keepern Ballgewinne ermöglicht. Sie in Tempogegenstöße und sogenannte leichte Tore zu verwandeln, darin dürfte der Schlüssel für ein erfolgreiches Abschneiden der deutschen Profis liegen. Die Deckung also muss stehen, wollen Golla und Co. tatsächlich in den Medaillenkampf eingreifen.

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