Der Zeitenwender

Den Liberalen bekommt ihre Mitgliedschaft in der Ampel-Koalition nicht gut. Christian Lindner unternimmt daher Befreiungsversuche

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 5 Min.

Was anderswo »Jahresauftakt« genannt wird – die Gelegenheit also, bei der die Eliten der Parteien sich erstmals im Jahr gegenseitig auf die Schultern klopfen – heißt bei der FDP »Dreikönigstreffen«. Der 6. Januar ist der Tag des Epiphaniasfests, an dem die Erscheinung des Herrn gefeiert wird, also der richtige Anlass, Christian Lindner zu begrüßen.

Der FDP-Chef hat seine Partei vor einem Jahr in eine Ampel-Koalition mit SPD und Grünen geführt und sich selbst dafür mit dem Posten des Bundesfinanzministers belohnt. Doch was zuerst noch neu und erstaunlich und manchen gar fortschrittlich erschien, wirkt nun arg gezaust. Fast die Hälfte der Bürger sagt inzwischen, die FDP wäre besser in der Opposition geblieben, so wie 2017, als Christian Lindner die Koalitionsverhandlungen verließ mit der Begründung, es sei besser nicht zu regieren als schlecht zu regieren.

In alarmierend hoher Zahl finden die Menschen laut Umfragen, dass die Ampel-Koalition schlecht regiert. Und der Stimmenanteil der FDP sinkt und sinkt. Lindner war am Freitag ins Stuttgarter Opernhaus gekommen, um sich diesem Trend mit großer Geste entgegenzustemmen. Und das mit der alten liberalen Botschaft: zuerst die Wirtschaft, dann das Vergnügen sozialer Ausgaben und Sonderprogramme. »Wenn dieses Land vorne mitspielen will, müssen wir zuerst die wirtschaftlichen Grundlagen dafür schaffen«, so Lindner. Nach einer Zäsur in der Außen- und Sicherheitspolitik müsse in diesem Jahr die Zäsur in der Wirtschafts- und Finanzpolitik folgen. »Und dafür brauchen wir ein Wachstumspaket.« Eine Zeitenwende wie zuvor Bundeskanzler Olaf Scholz beschwor Lindner damit.

Christian Lindner versucht derzeit, sich und seine Partei aus einem Dilemma zu befreien. Die milliardenschweren Sonderprogramme wegen Corona- und Energiekrise, Inflation und zur Aufrüstung der Bundeswehr trug er mit und begründete sie auch am Freitag als notwendig. Gleichzeitig galt er monatelang als Bremser für rot-grüne Pläne in der Sozialpolitik; auch die für dieses Jahr angekündigte Kindergrundsicherung bekam bereits seine ersten ätzenden Bemerkungen ab. Die eigene Anhängerschaft hadert dennoch, weil Lindner von neoliberalen Grundsätzen abwich, abermilliarden neue Schulden machte und die versprochene Schuldenbremse zwar im Munde führte, ihre erneute Geltung aber nicht durchsetzte.

Lindner hatte seine Dreikönigsbotschaft gut vorbereitet. Vor Weihnachten wurde sie bereits in Form eines Papiers aus Lindners Ministerium öffentlich, das eher Wahlkampfprogramm ist als Gesetzesvorhaben. Das »Wachstumspaket 2023/2024« zieht aus Inflationsraten, Defiziten bei der Modernisierung, Fachkräftemangel und Unsicherheiten bei der Energieversorgung den Schluss, dass Wirtschaften billiger werden müsse, was im Umkehrschluss heißt, dass die Zeit des sozialen Ausgleichs zu enden hat. »Nach einem Jahrzehnt der Verteilungspolitik und der Nachfragestärkung müssen wir eine ordnungspolitische Trendwende zur Angebotspolitik wagen«, heißt es in dem Strategiepapier. Also von der Förderung der abhängig Beschäftigten und Konsumenten, etwa durch Infrastrukturprogramme, hin zur Förderung der Unternehmen, etwa durch Erleichterungen von Auflagen und Steuerbelastungen.

Fachleute widersprechen bereits der Grundannahme dieser Verkündigung, dass nämlich ein Jahrzehnt der Nachfragestärkung hinter uns liege. So stellt Achim Truger, Mitglied im Sachverständigenrat Wirtschaft, fest, dass die deutsche Finanzpolitik zwischen 2010 und 2019 tendenziell restriktiv war und die Armutsrisikoquote im Trend gestiegen sei. Von einer »recht harten Austeritätspolitik« schreibt Truger auf Twitter. Von einem Jahrzehnt der Verteilungspolitik, mit der Lindner jetzt offenbar Schluss machen will, kann also nicht die Rede sein.

Für den FDP-Chef ist auch die Debatte über die weitere Laufzeitverlängerung für drei Atomkraftwerke nicht länger tabu, die Kanzler Scholz vor Wochen mit einem Machtwort beendet hatte. In den letzten Tagen sprach Lindner sich erneut für einen Weiterbetrieb aus, der im April enden soll. Für seine hektische Betriebsamkeit hat er freilich gute Gründe. In diesem Jahr stehen Wahlen an. Im vergangenen Jahr flog die FDP in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein aus den Landesregierungen, in Niedersachsen gar aus dem Parlament. 2023 wird in Bremen, Bayern und Hessen gewählt, und schon im Februar steht die Wiederholungswahl in Berlin an.

In Stuttgart warb Lindner für Steuerentlastungen in Deutschland, auch wenn dies in der Ampel-Koalition derzeit kein Thema ist. Er nannte es ein »Eigeninteresse von SPD und Grünen«, dass die FDP ihre steuer- und finanzpolitische Kompetenz nicht eingestellt habe. Und als versöhnliche Geste: Wolle die Koalition eine Wiederwahlchance erhalten, werde das nur gelingen, wenn »wir unser Land auf die wirtschaftliche Erfolgsspur zurückführen«. Ein Umarmungsversuch auch die Ankündigung, dass die FDP mit ihrer Bildungsministerin für eine zusätzliche Bildungsmilliarde pro Jahr eintreten werde – damit dürften SPD und Grüne schnell einzuwickeln sein und Lindner dann vielleicht für seinen Ruf nach Frackinggasförderung in Deutschland nicht allzu lange grollen.

Panik scheint Lindner anzutreiben, wenn er mit seinen Vorstößen die innere Balance der Koalition gefährdet. Kann sein, dass dies der eigentliche Aufreger nach dem Dreikönigstreffen wird: Dem Minister ist es gar nicht erlaubt, die Ressourcen seines Ministeriums für parteipolitische Zwecke zu nutzen. Der Wachstumsplan ist kein Gesetzentwurf und er ist keine Vorbereitung auf einen Gesetzentwurf, sondern ein parteipolitischer Vorstoß, den Lindner ohne seine Koalitionspartner unternommen hat. Lindners Versuch eines wirtschaftspolitischen Aufbruchs kommt nicht einmal bei der Union an, auch wenn sie Teile davon beklatschen würde. Die finanzpolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Antje Tillmann: »Mit der aktuellen Debatte zeigt sich nur, dass Herr Lindner ein guter Kommunikator ist – mit seinem Vorschlag schafft er es, in der Presse zu landen – beim Koalitionspartner scheint ihm das nicht zu gelingen.«

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