Die Sucht nach Bühnenbrillanz

Von Handkes »Publikumsbeschimpfung« bis zu Müllers Tod: Ein Loblied auf das Theater und seine Macher von Günther Rühle

  • Christoph Woldt
  • Lesedauer: 5 Min.
Kreative Zusammenarbeit: Die beiden Dramaturgen Alexander Weigel und Heiner Müller während einer Probe zu »Der Lohndrücker«, 1988
Kreative Zusammenarbeit: Die beiden Dramaturgen Alexander Weigel und Heiner Müller während einer Probe zu »Der Lohndrücker«, 1988

Den ersten Band seiner Theaterhistorie publizierte Günther Rühle 2007. Darin wurde ein weiter Bogen deutscher Bühnengeschichte von 1887 bis 1945 geschlagen, eine Biografie des bürgerlichen Theaters. Es folgte sieben Jahre später der zweite Band mit ähnlichem Umfang, der die Zeit bis zu den westdeutschen Studentenprotesten umfasste. Der dritte Band beschreibt die aufregendste Zeit des Theaters in Ost- und Westdeutschland. Sie beginnt 1967 mit der »Publikumsbeschimpfung« von Peter Handke und endete für Rühle mit dem Tod Heiner Müllers.

Geboren 1924 in Gießen als Sohn eines Wirtschaftsprüfers und Heimatschriftstellers, studierte Günther Rühle nach dem Krieg in Frankfurt am Main Germanistik, Geschichte und Volkskunde und ging nach ersten Erfahrungen als Lokalreporter zum Feuilleton der »Frankfurter Neuen Presse«. Ab 1960 schrieb er vor allem Theaterrezensionen für die »FAZ«. Nachdem er Feuilletonchef wurde, durfte er in der »FAZ« nicht mehr über Theater schreiben und widmete sich fortan dessen Geschichte. 1967 veröffentliche er das zweibändige Standardwerk »Theater für die Republik, 1917 – 1933«, editierte Marie-Luise Fleißer und entdeckte verschollene Briefe von Alfred Kerr. 1985 wurde der »Großkritiker« Intendant. Als Nachfolger von Adolf Dresen übernahm er die Leitung des Frankfurter Schauspielhauses. Seine Intendanz schrieb mit dem Skandal um Rainer Werner Fassbinders »Der Müll, die Stadt und der Tod« Theatergeschichte. Nach nur einer Ur-Aufführung für Kritiker wurde die Inszenierung wegen Antisemitismusvorwürfen abgesetzt. Als Theaterleiter förderte Rühle Regisseure wie Einar Schleef und entdeckte Schauspieler wie Martin Wuttke. Vier Jahre später gab Rühle die Intendanz auf und wurde Redakteur beim Berliner »Tagesspiegel«.

Fünf Jahre hatte Rühle am letzten dritten Band seiner Theaterhistorie gearbeitet, als er mit 95 Jahren das Augenlicht verlor. Keine technischen Geräte konnten ihm mehr helfen, das umfangreiche Material zu ordnen. Er übergab das Material an den Dramaturgen Hermann Beil und den Theaterhistoriker Stephan Dörschel. Trotz der Blindheit kämpfte und schrieb er weiter. Ein letztes Mal nahm er seine Kraft zusammen und umkreiste die große Tragik des körperlichen Abgangs und beschrieb die Fahrt in den Nebel der Dunkelheit (»Ein Alter Mann wird älter – Ein merkwürdiges Tagebuch«, erschienen 2021 im Alexander-Verlag). Im Dezember 2021 verstarb der Theaterkritiker und Ex-Intendant im Alter von 97 Jahren.

Rühles Panorama ist eine eindrucksvolle Erkundung, eine Liebeserklärung an die Bretter, die die Welt deuten und bedeuten. Ein Buch über die Kämpfe, Siege und Niederlagen. Der Untertitel dieser Theaterbiografie lautet treffend: »Seine Ereignisse – seine Menschen«. Auf 750 Seiten verzahnt Günther Rühle die Theaterereignisse mit der deutschen Geschichte und spiegelt die Verhältnisse, die Machthaber, ihre Möglichkeiten und Grenzen. Im Zeitraum von 1967 bis 1989 erreicht das Theater in Deutschland seinen Höhepunkt an gesellschaftlicher Bedeutung. Rühle erzählt und wertet gern. Er kennt die schuldhaften Eingeständnisse von Regisseuren wie Adolf Dresen in Ostberlin, die aufs Überleben bedacht waren – Dresen bekam von der Parteileitung die »Chance«, sich mit einer zweiten Inszenierung zu bewähren. Rühles Schreiben ist der Weg eines forschenden Liebhabers und eines lustvollen Wortspielers, so wird Steins Bremer »Tasso« zur Gipfelung, der Bitterfelder Weg der SED wird mit dem Satz: »Es wuchs der Zug nach links« beschrieben.

Über Premieren schreibt Rühle, als hätte er selbst im Publikum gesessen. Dabei verwendet er Rezensionen und Memoiren von Schauspielern und Spielleitern, die schönsten Bonmots schnipselt er gekonnt zusammen. Doch dies wird im Erzählfluss nicht gekennzeichnet. Angetrieben ist Rühles Erzählen vom lebendigen Engagement und seiner Anerkennung großer Schauspielkunst sowie der »Sucht nach der nächsten Bühnenbrillanz«. Dabei wechselt Rühle immer wieder die Orte – mal ist er im Osten, dann wieder im Westen, und unterschwellig wird das Theater als nationale verbindende kulturelle Praxis behauptet.

Durch die gesundheitliche Beeinträchtigung des Materialsammlers blieb der dritte Band ein Fragment. Die Darstellung wirkt teilweise lückenhaft, hat Leerstellen, ist geleitet und geprägt von den Vorlieben Rühles. Der Grund dafür erscheint einfach, denn die Geliebten zu beschreiben ist einfacher und gelingt viel lebendiger. Insbesondere, wenn es um das Regie-Genie Frank Castorf oder den Autor und Regisseur Heiner Müller oder die Ausnahmetalente Ulrich Mühe und Martin Wuttke geht, verändert sich Rühles Schreibtempo und steigt die Intensität des Textes. Dies hätte man sich natürlich für alle Aufführungsberichte gewünscht.

Der Reigen der Rezensionen und die Beschreibung von Personalien erzeugen ein Panorama von Wien bis Zürich, von Hamburg bis Bochum und von Nordhausen bis Rostock. Parallelen und Divergenzen, die Wiederbesinnung auf Klassiker und ihre Zerstörung werden verortet. Mit enzyklopädischer Breite und frischer Aufmerksamkeit werden Aufführungen, prägende Autoren, Regisseure und Schauspieler beschrieben. Es geht um Visionen und Zusammenhänge, aber auch um Stile, Arbeitsmethoden, Themen, Organisationsformen, Subventionen und Schließungen.

Gleichzeitig war das Theater immer ein Feld für den Vergleich der Systeme und Ideologien. Welche Kunst konnte in der Welt bestehen und auf Gastspielen überzeugen? Seiner Grundlinie folgend, arbeitet Rühle die Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten des Theaters in Ost und West heraus und zeigt ausführlich das Wirken der DDR-Exilanten vor und nach der Wende. Da die Theater in der DDR als typische Gegenöffentlichkeit stark von der Geschwindigkeit des Endes der DDR als Staat betroffen waren, widmet sich Rühle auch dieser sehr spannenden Phase und schildert die Momente der Wende insbesondere in Berlin Ost und West.

Vieles bleibt bei Rühle jedoch unerwähnt, insbesondere die Einflüsse des Off-Theaters, die Entwicklungen im Tanztheater und die Impulse der Perfomance-Kultur fehlen. Der Autor steckt in seinem bürgerlichen Verständnis von Theater fest, die Entwicklungen nach der Vereinnahmung der DDR behauptet er als Re-Integration in ein bürgerliches System. Der Verlust der Utopien im Jahre 1968 im Westen wird in den »neuen Bundesländern« mit »durchängstetem« Hintergrund in den 90er Jahren nachgeholt. Konsequent versteigt sich die Edelfeder zu der Behauptung, dass nun eine freie Gesellschaft entstanden und das Lessingsche Schaubühnen-Konzept erfüllt ist.

Rühle und seine Mitstreiter haben mit dem dritten Band erneut viel Material, Biografien und Ereignisse auch über 1995 hinaus zusammengeführt. Das Behaupten des Ereignishaften funktioniert, ist gut lesbar, doch mehr Reflexionen über die Entwicklungen theatraler Mittel und entsprechende Analysen hätten nicht geschadet.

Günther Rühle: Theater in Deutschland 1967–1995 (Band III). Seine Ereignisse – seine Menschen. Hg. v. Hermann Beil und Stephan Dörschel. S. Fischer, 795 S., geb., 98 €; E-Book 59,99 €.

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