Im Exil beim slawischen Bruder

Serbien ist ein beliebtes Ziel für russische Auswanderer geworden

  • Roland Zschächner, Belgrad
  • Lesedauer: 8 Min.

Ob auf der Einkaufsstraße Knez Mihailova, in den vielen Cafés im Viertel Dorćol oder auf den Partybooten am Ufer der Sava: In der serbischen Hauptstadt Belgrad ist immer häufiger Russisch zu hören. Zu Tausenden sind vor allem junge Menschen aus der Russischen Föderation seit dem 24. Februar nach Serbien ausgewandert. Mit der Mobilmachung im September wurden es noch einmal mehr. Doch auch Ukrainer, die vor dem Krieg geflohen sind, und Belarussen haben auf dem Balkan ein Exil gefunden.

Wie viele es insgesamt sind, ist unklar. Im November sprach der öffentlich-rechtliche Rundfunk RTS von mehr als 100 000 Russen und rund 18 000 Ukrainer, die nach Serbien kamen. Peter Nikitin vermutet sogar, dass es weit mehr sind, als die Medien veröffentlichen. »200 000 Russen dürften mittlerweile im Land sein«, so der Gründer der Russischen Demokratischen Gesellschaft. Wie viele Ukrainer nach Serbien gekommen sind, wisse man dagegen ziemlich genau, weil die meisten von ihnen als Kriegsflüchtlinge registriert seien.

Die Gesellschaft wurde Anfang Dezember gegründet und ist eine von mehreren russischen Vereinen in Belgrad. Sie setzt sich für die Belange der russischen, aber auch ukrainischen Migranten ein. Sie spricht sich klar gegen den russischen Angriff auf die Ukraine aus und rief auch zu einer Friedensdemonstration am 24. Dezember in Belgrad auf. Hunderte Menschen versammelten sich unter dem Motto »Frieden für die Ukraine – Freiheit für Russland«. »Viele Russen sind froh, dass sie gegen den Krieg demonstrieren können«, berichtet Nikitin, der bereits seit 2016 in Serbien lebt. Schließlich sei das in Russland ja nicht mehr möglich. Endlich fühlten sie sich wieder auch als politische Menschen.

In Belgrad hat sich in den vergangenen Monaten eine lebendige russischsprachige Kulturszene entwickelt. Die Zuwanderer sind durch Facebook, Instagram oder Telegram vernetzt, und es vergeht keine Woche, in der nicht ein Konzert oder eine Lesung stattfindet. Andere Migranten organisieren direkte Hilfe für ukrainische Geflüchtete. Die Gruppe Friedenstaube aus Novi Sad sammelt Gelder und Sachspenden, die im nahegelegenen Asylzentrum in Vranje verteilt werden. Zuletzt bekamen die Kinder dort Weihnachtsgeschenke.

Aber es treten inzwischen auch politische Konflikte zwischen Russen und Ukrainern zutage, berichtet Nikitin. Er beobachte bei einigen Ukrainern eine Radikalisierung. Sie würden sich das Auseinanderfallen Russlands wünschen, während man sich in der russischen Community den Sturz des Putin-Regimes und eine Demokratisierung Russlands ersehne.

Verwunderlich ist es nicht, dass ausgerechnet Belgrad zu einem Ort der russischen Diaspora geworden ist. Schließlich können Russen ohne Visum nach Serbien reisen und 30 Tage dort bleiben. Wenn sie dann kurz aus- und wieder einreisen, verlängert sich der Zeitraum erneut um 30 Tage. Wer eine Arbeit findet, selbst eine Firma gründet oder sich als Freiberufler anmeldet, bekommt zudem recht einfach eine Aufenthaltserlaubnis. Agenturen bieten dafür ihre professionelle Hilfe an.

Ein weiterer Grund für die Attraktivität Belgrads sind die westlichen Sanktionen gegen Russland, an denen sich Serbien nicht beteiligt. Viele russische Firmen, die weiterhin mit westlichen Kunden Geschäfte machen wollen, haben inzwischen ihren Sitz nach Serbien verlegt. Ihre Mitarbeiter nehmen sie oft mit, und auch Freiberufler können relativ leicht an Aufträge kommen. Die serbische Hauptstadt bleibt für Russen, die ihrer Heimat den Rücken kehren, eines der wenigen verbliebenen Tore nach Europa.

Serbien war bereits in der Vergangenheit ein Exilort für Russen. Nach der sozialistischen Oktoberrevolution 1917 flohen Mitglieder der besiegten zaristischen Eliten und des Bürgertums auf den Balkan. Dazu trug damals wie heute eine kulturelle Nähe bei. Sowohl in Russland als auch Serbien ist das orthodoxe Christentum die vorherrschende Religion, hier wie dort spricht man eine slawische Sprache und verwendet die kyrillische Schrift.

Die serbische Russophilie ist seit dem Ende der 90er Jahre und dem Verlust des Kosovo von jeder Regierung in Belgrad – egal ob liberal oder rechtsstehend – zum politischen Paradigma erhoben worden. Und auch Moskau stellt sich außenpolitisch an die Seite Serbiens, etwa wenn es um die Ablehnung der Eigenstaatlichkeit des Kosovo geht. Ob im UN-Sicherheitsrat oder in anderen internationalen Organisationen – Belgrad kann sich stets auf die Unterstützung aus Moskau verlassen.

Außerdem gibt es ökonomische Verflechtungen zwischen beiden Ländern. Die Abwicklung des Sozialismus ging in Serbien mit der Privatisierung der Wirtschaft einher, wobei die Gas- und Ölindustrie zum Freundschaftspreis an russische Staatskonzerne verkauft wurde. Bei Gasprom weiß man das heute noch zu schätzen und lässt die serbisch-russische Freundschaft in Belgrad auf großen Werbebannern hochleben. Abseits der Energiebranche sind die wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland allerdings weniger stark, als man vermuteten könnte; die Handelsbilanz fällt weit hinter der mit der Europäischen Union oder China zurück.

Viele Serben fühlen sich mit Russland verbunden. Rund 80 Prozent der Bevölkerung sieht laut Umfragen eine besondere Beziehung zwischen ihrem Land und Russland. Das ist eine sonst nicht vorhandene Einmütigkeit, die sowohl Stadt- wie Landbevölkerung, Menschen unterschiedlicher Altersgruppen, Bildungsniveaus und politischer Einstellungen verbindet. Diese Verbundenheit zu Russland ruft allerdings nicht immer die gleichen Gefühle bei den Russen hervor; beim großen Bruder im Osten weiß man oftmals gar nicht, wo auf der Landkarte Serbien überhaupt liegt.

Die Russophilie sorgt auch dafür, dass fast die Hälfte der serbischen Bevölkerung den Krieg in der Ukraine befürwortet. Wenn sie dann auf Russen träfen, die sich gegen den Angriff und gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin aussprechen, sorge das für Verwirrung, berichtet Peter Nikitin. »Für viele Serben ist Russland gleich Putin.« Für den Großteil der ausgewanderten Russen in Serbien ist es indes andersherum: Wenn man Putin liebe, hasst man Russland.

Viele der russischen Auswanderer seien um die 30 Jahre alt, gut ausgebildet und lebten zuvor in Moskau oder St. Petersburg, erklärt Nikitin. Sie arbeiten für IT-Firmen oder als Selbstständige und können ihrem Job überall auf der Welt nachgehen. Politisch sind sie überwiegend liberal eingestellt, wobei die Ablehnung Putins und des Kriegs in der Ukraine die gemeinsamen Nenner sind. Für viele waren die Repressionen gegen die Friedensdemonstrationen im Frühjahr sowie die Einberufung der Männer zum Militär ausschlaggebend, um Russland zu verlassen.

Einige von ihnen haben ihre Flucht aus Russland und ihr neues Leben in Serbien auf Social-Media-Kanälen dokumentiert. Die YouTuberin Sailor Nom berichtet beispielsweise in ihren Videos davon, dass sie es in Russland nicht mehr ausgehalten habe. In Serbien habe sie dagegen viel Gastfreundschaft erfahren. Zudem schwärmt sie von der Kinderliebe, die ihr Sohn erfährt. Auch andere Russen preisen die Vorzüge des Lebens in Serbien. Dabei wägen sie die Vorteile des Lebens auf dem Balkan mit den Besonderheiten der dortigen Kultur für ihre Landleute in Russland ab. Oft schwingt dabei die Aufforderung mit, ihnen nachzukommen.

Die Mehrheit der russischen Migranten ist in Großstädten aufgewachsen, und viele lassen sich in Serbien wieder in Städten nieder. Zentren der russischen Auswanderung sind die Hauptstadt Belgrad und die im Norden des Landes gelegene zweitgrößte Stadt Novi Sad. Das hat Folgen. Schulen müssen sich auf russische Kinder und Jugendliche einstellen, und auch der Wohnungsmarkt ist zunehmend angespannt. Die Mietpreise sind seit Anfang 2022 erheblich gestiegen.

Kostete vor einem Jahr eine Zweiraumwohnung im Belgrader Zentrum zwischen 300 und 500 Euro, ist diese – falls überhaupt verfügbar – nun nicht unter 1200 Euro zu haben. Auch in Vierteln außerhalb des Zentrums werden mittlerweile Mieten von mehr als 1000 Euro verlangt. Dabei beträgt der durchschnittliche Monatslohn in Belgrad gerade einmal rund 700 Euro, wobei die Lebenshaltungskosten ähnlich hoch sind wie in Deutschland und die Inflationsrate in den vergangenen Monaten bei bis zu 15 Prozent lag.

Nutznießer der Lage sind Immobilienbesitzer. Sie können immer höhere Mieten verlangen, weil die russischen Migranten – meistens handelt es sich um Paare – über ausreichend Geld verfügen. Das serbische Mietrecht bietet zudem für Bestandsmieter kaum Schutz vor Kündigungen. In der Regel werden die Verträge jährlich neu aufgesetzt, sodass es mitunter zu Räumungen kommt, um zahlungskräftigen Russen Platz zu machen.

Aber es steigt auch der Wert der Immobilien. 3000 Euro pro Quadratmeter sind keine Seltenheit mehr. Von dieser Entwicklung sind nicht nur Belgrad und Novi Sad betroffen, sondern auch das südliche, ärmere Niš. Ein Ende des Preisanstiegs ist nicht in Sicht.

Das Nachsehen haben unter anderem junge Paare, die noch keine Wohnung gekauft haben und weiter zur Miete wohnen, sowie Studierende, die zu Semesterbeginn nach Belgrad oder Novi Sad ziehen. Wohnheimplätze gibt es nur wenige, sodass sich viele auf dem Markt eine Bleibe suchen müssen. Weil dies aber oft aussichtslos ist, gibt es inzwischen Forderungen, das Studium wie während der Corona-Pandemie digital abzuhalten, damit ein Umzug in eine Universitätsstadt nicht mehr zwingend ist.

Es würde sicherlich zu kurz greifen, die Entwicklung des Immobilienmarkts einzig den eingewanderten Russen anzukreiden. Schließlich begannen die Wohnungspreise bereits 2021 zu steigen. Mit dem Krieg in der Ukraine und der Migration nach Serbien hat sich der Trend aber unerwartet verstärkt.

Dass künftig weniger Russen nach Serbien kommen, davon geht Peter Nikitin nicht aus. »Immerzu kommen neue Menschen.« Seinen Landsleuten werde klar, dass sie nicht nur in die Türkei oder nach Georgien ins Exil gehen könnten, sondern auch auf den Balkan. Dazu trage auch die Russische Demokratische Gesellschaft bei, die oftmals bei einer Ausreise vermittelt: »Serbien ist ein sicherer und guter Ort«, meint Nikitin.

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