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Linke Unschärfen und Leerstellen
Welche Ursachen hat die programmatische und strategische Schwäche der Linksparteien in Europa? Eine Momentaufnahme
Die unmittelbar wirksame globale Verschränkung von Krieg, Inflation und Klimakrisen bedeutet für die Linksparteien in Europa, dass – anders als nach der Finanzmarktkrise 2009/09 und der dann brutal einsetzenden Austeritätspolitik – sich heute die soziale Frage direkt verbindet mit den Auswirkungen des Krieges in der Ukraine und den längst zerstörerisch wirkenden Klimaveränderungen. Damit wird das Anforderungsprofil an eine moderne europäische Linke komplexer. In der sozialen Frage sind sich alle Linksparteien einig: Alle fordern Maßnahmen gegen Preisanstiege, gegen das weitere Ansteigen der Inflation, konkrete Maßnahmen gegen die sich abzeichnende Verarmung. Zu den konkret erhobenen Forderungen gehören die Einführung einer Übergewinnsteuer, die Deckelung von Energie- und Gaspreisen sowie die Erhöhung von Sozialtransferleistungen und Mindestlöhnen.
Die meisten Parteien, insbesondere die erfolgreichen Parteien in Europa, haben längst auch die ökologische Frage – ähnlich wie Die Linke in Deutschland – programmatisch verankert. Für die skandinavischen Linksparteien, insbesondere die dänische Rot-grüne Einheitsliste, gehören ökologische Fragen zum Selbstverständnis.
Die weitestgehenden Überlegungen finden sich allerdings bei der französischen La France insoumise (LFI), die seit 2019 die ökologische Frage programmatisch und strategisch systematisch entwickelt. Im Wahlprogramm 2022 geht es um die Reduktion der Treibhausgasemissionen um 65 Prozent bis 2030, den Übergang »zur ökologischen und bäuerlichen Landwirtschaft«, die Senkung der Mehrwertsteuer für den öffentlichen Personennahverkehr, ein Flugverbot für Flüge unter drei Stunden und die Schaffung von mindestens einer Million Arbeitsplätzen durch Investitionen in ökologische und soziale Branchen. Dazu soll ein »Pool öffentlicher Banken« geschaffen werden.
All dies steht auch im Programm der linken Wahlallianz Nupes. Mit den Forderungen zur Nationalisierung der Großbanken und zur Re-Nationalisierung kritischer Infrastruktur von Post und Bahn gehen LFI und die Kommunisten der PCF über diesen Forderungskatalog hinaus. Unterschiedliche Positionen gibt es – und das nicht nur in Frankreich – zur Atomenergie; sie wird von den französischen Kommunisten gleichermaßen verteidigt wie von der tschechischen kommunistischen Partei KSCM.
Vor der größten Herausforderung stehen die Linksparteien jedoch durch die Verknüpfung von sozialer Frage und Krieg in der Ukraine. Einig sind sich alle Linksparteien in der Verurteilung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Aber bereits die Schärfe der Verurteilung verweist auf Unterschiede zwischen den Linksparteien, die sich vor allem auf die Bewertung der Mitschuld der Nato beziehen, konkret auf deren Osterweiterung und die Ignoranz gegenüber russischen Sicherheitsbedürfnissen.
Zugleich verändert der russische Angriffskrieg auch innerhalb der Linksparteien nicht nur in Finnland und den baltischen Ländern die Haltung zur Nato und ihrer Norderweiterung mit der Aufnahme von Finnland und Schweden. Während die Mehrheit der Linksparteien die Nato noch immer als interessengeleitetes Militärbündnis ablehnt, sehen die linken Kräfte in den baltischen Ländern und ebenso die Partei Razem in Polen in der Nato die bisher einzig reale Schutzmacht. So erklärte Razem die kollektive Verteidigung im Rahmen der Mitgliedschaft in der Nato und EU zum Hauptelement polnischer Sicherheit.
Gegensätzliche Standpunkte gibt es in Bezug auf die Lieferung von Waffen. Die schwedische Vänsterpartiet (Linkspartei) erklärte in ihrem ersten Statement, dass weder ein schwedischer Beitritt zum Nato-Atombündnis noch schwedische Waffenexporte in kriegführende Länder zu einer friedlicheren Welt beitragen. Sie sieht in der militärischen Blockfreiheit auch weiterhin die beste Grundlage für eine eigenständige Außenpolitik für Frieden und Abrüstung. Ähnlich formulieren dies auch die meisten westeuropäischen Linksparteien der Europäischen Linken (EL): Sie lehnen Waffenlieferungen und und die Nato-Norderweiterung ab. Die finnische Linksallianz sieht dagegen die Notwendigkeit, die Ukraine auch mit Waffen zu unterstützen. Auch die polnische Razem erklärt, dass als Reaktion auf die militärische Bedrohung die Unterstützung der Ukraine in Form von Waffenlieferungen, militärischen Hilfsgütern und grundlegenden Hilfsgütern für die Zivilbevölkerung sowie nachrichtendienstlicher und medizinischer Hilfen erfolgen muss.
Die Mehrheit der Linksparteien unterstützt Sanktionen vor allem als nichtmilitärische Option, wobei es Unterschiede hinsichtlich ihrer Ausrichtung gibt. So fordert neben der deutschen Linkspartei auch der portugiesische Bloco de Esquerda (Linksblock), dass Sanktionen sich gegen die russische Elite, gegen das System Putins richten müssen. Andere Parteien, wie die irische Sinn Fein, die finnische Linksallianz und die schwedische Linkspartei, fordern umfassende Sanktionen bis hin zum Stopp der Erdgastrasse Nord Stream 2. Die polnische Razem fordert darüber hinaus auch den Ausschluss Russlands aus dem Europarat. Gegen Sanktionen haben sich die Left Unity aus Großbritannien, die Izquierda Unida (Vereinigte Linke) aus Spanien und die zyprische Akel ausgesprochen, weil diese eher die Arbeiter in Russland träfen und nicht die Oligarchen. Die Akel verweist darauf, dass Sanktionen zu gewollten, aber auch zu nicht gewollten Konsequenzen führen werden und die Menschen in Europa dafür den Preis zahlen müssen.
Unterschiedlich fallen auch die nationalen Abstimmungen zum Nato-Beitritt von Finnland und Schweden aus. Die Mehrheit der linken Parlamentarier lehnt diesen bei den Abstimmungen in ihren Ländern ab, einschließlich der schwedischen Linkspartei, die an der Idee der Neutralität und Blockfreiheit Schwedens festhält. Anders in Finnland, wo 9 von 16 Abgeordneten der Linksallianz sich für den Nato-Beitritt ausgesprochen haben.
Das bedeutet, dass in allen diesen Fragen die Linken in Europa keine einheitlichen Positionen vertreten. Die Tatsache, dass die polnische Razem und die linken Organisationen in den baltischen Ländern nicht Mitglied der EL und der Linksfraktion im Europäischen Parlament sind, hilft derzeit zwar beiden Akteuren bei der Formulierung ihrer außenpolitischen Positionen im EU-Wahlkampf. Zugleich aber zeigt dies, dass weder die Europäische Linkspartei noch die Fraktion im EU-Parlament – zumindest in außenpolitischen Fragen – für die gesamte europäische Linke sprechen können.
Bisher galt das Fehlen von Vertretern der ostmitteleuropäischen Linken in den Diskursen der europäischen Linken als Folge anhaltender Schwierigkeiten der postsozialistischen Linken, sich nach dem Scheitern des Staatssozialismus neu zu formieren. Ihr Fehlen wurde zwar beklagt, aber nicht ernsthaft als Problem der gesamten europäischen Linken diskutiert und strategisch bearbeitet. Immerhin gelang es, mit Razem in Polen seit 2015, Levica in Slowenien ab 2014 und Možemo in Kroatien 2019 neue linke Parteiprojekte zu etablieren.
Mit dem Krieg in der Ukraine wird jedoch die bisher eher untergeordnete geografische Dimension wichtiger: Bedeutsam für europäische Debatten um die Zukunft der EU sind nicht nur die Größe und die ökonomische Stärke eines EU-Landes, dessen Einbindung in die europäische und internationale Arbeitsteilung, sondern auch seine geografische Lage entlang der neuen Blockgrenzen, der sich herausbildenden neuen globalen Blockkonfrontation gegenüber Russland (und China). Damit erhalten die Länder entlang dieser Grenzen, insbesondere Finnland, Polen und die baltischen Staaten, ein anderes Gewicht. Ob die relativ schwachen Linken in diesen Ländern sich gegen die sich dort entwickelnden neuen Formen eines transnationalen Patriotismus mit nationalistischen Öffnungen wehren können, bleibt eine offene Frage.
Bereits 70 Prozent der Wähler der finnischen Linksallianz sind persönlich bereit, sich im Falle eines Angriffs auf Finnland entsprechend ihren Kompetenzen und Fähigkeiten an Aufgaben der Landesverteidigung zu beteiligen. Dieser Wert lag 2020 bei 50 Prozent. 75 Prozent der Wähler des Linksbündnisses würden zu den Waffen greifen, um sich in jeder Situation zu verteidigen, auch wenn der Ausgang ungewiss erscheint. 2021 lag diese Zahl bei 43 Prozent und 2020 bei 50 Prozent. Bei den Wählern der Linksallianz war der Anstieg am größten.
Eine andere offene Frage ist, wie sich die europäischen Linken zur Idee einer Europäischen Armee verhalten – eine Diskussion, die in der griechischen Syriza und ebenso in der deutschen Linkspartei geführt wird. Der Leiter der Abteilung für auswärtige Angelegenheiten von Syriza, Yorgos Katrugalos, spricht sich offen für eine europäische Armee aus, die vor allem von Jean-Luc Melenchons Partei La France insoumise kategorisch als gefährliches Projekt von Präsident Emmanuel Macron abgelehnt wird.
Fazit: Während die Linksparteien sich in der sozialen Frage weitgehend einig sind, agieren sie gespalten in den außenpolitischen Fragen, wie hier konkret hinsichtlich der Rolle der Nato, der Sanktionen, der Waffenlieferungen an die Ukraine. Zugleich können die Linken bisher kein schlüssiges, alternatives Konzept kollektiver Sicherheit anbieten. Die Einigkeit und Klarheit der Linksparteien in der sozialen Frage trifft auf Uneinigkeit und Unklarheit in wichtigen Teilen ihrer außenpolitischen Positionen. Vor allem die unterschiedliche Sicht auf Sanktionen als nichtmilitärisches Mittel gegen Russland wird dann zum Problem der Linken, wenn diese mit anhaltenden Preissteigerungen von Strom, Gas und Lebenshaltungskosten im eigenen Land verbunden sind.
Das neue Dilemma, vor dem die Linksparteien nun stehen, besteht darin, dass sie mehrheitlich Sanktionen als nichtmilitärische Instrumente gegen das Regime von Wladimir Putin unterstützen, diese Instrumente jedoch ökonomische und soziale Verwerfungen in den EU-Ländern selbst produzieren – durch den Abbruch von Produktions- und Handelsbeziehungen (auch jenseits von Strom und Gas) und die Unterbrechung von Lieferketten, die ihrerseits höhere Strom-, Gas- und Lebenshaltungskosten zur Folge hat. Vor diesem Dilemma stehen die Rechtsparteien in Europa nicht. Die lehnen mehrheitlich die Sanktionen als Preistreiber und Inflationsbeschleuniger grundsätzlich ab und konnten mit ihrer »schlüssigen Geschichte« im Herbst 2022 mobilisieren.
Gegen ein solches Narrativ, das letztlich eine Kriegserzählung bleibt, müssten die Linksparteien eine wirkliche Friedens- und Abrüstungserzählung setzen, die auf einem erweiterten Verständnis von Frieden und Sicherheit basiert und soziale Gerechtigkeit, alternatives Wirtschaften und sozial gerechten ökologischen Wandel mit Lebensperspektiven für alle in einem Europa verbindet, das demokratisch und menschenrechtlich
verfasst ist.
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