Der Zug ist längst abgefahren

Georg Fülberth über den Wandel der Grünen in den vergangenen Jahren

  • Georg Fülberth
  • Lesedauer: 3 Min.

In Nordrhein-Westfalen wurde das Dorf Lützerath abgeräumt, um klimaschädlichen Braunkohletagebau zu ermöglichen. Ähnliches geschah 2020 in Hessen. Dort ist der Dannenröder Forst für eine Autobahn gerodet worden. In beiden Ländern regieren die Grünen mit. Sie argumentieren so: Die Räumung von Lützerath sei Teil eines Kompromisses mit RWE, bei dem der Konzern Zugeständnisse machen musste. So werde trotz zeitweiliger zusätzlicher Braunkohleförderung letztlich CO2 eingespart. Die neue Autobahn-Trasse durch Hessen wurde auf Bundesebene beschlossen. Der Landesregierung seien die Hände gebunden.

Einige Kritiker und Kritikerinnen setzen nach: Die Grünen hätten vor lauter Taktik ihre ursprünglichen Prinzipien aufgegeben. Einst wollten sie basisdemokratisch, ökologisch, sozial und gewaltfrei sein. Davon sei nichts mehr übrig: Verrat. Prüfen wir diese Anklage.

Georg Fülberth
Georg Fülberth-Sperling
Georg Fülberth, geboren 1939, ist Politikwissenschaftler und Historiker.

Im Grundgesetz ist nicht viel von Basisdemokratie die Rede. Die Bundesrepublik versteht sich als repräsentative Demokratie, in der die Abgeordneten an Aufträge und Weisungen nicht gebunden sind. Immerhin werden in Artikel 20 auch Abstimmungen als Mittel politischer Willensbildung genannt. Seit dem Aufstieg der Grünen wird mit direkter Demokratie experimentiert. Inzwischen werden nicht nur von ihnen, sondern auch von CDU und SPD zuweilen Entscheidungen über den Parteivorsitz durch Mitgliederbefragungen vorbereitet. Auf kommunaler Ebene gibt es mehr Bürgerbeteiligung.

Zweites Stichwort: Ökologie. Auf diesem Gebiet sind die Grünen hegemonial. Selbst dort, wo sie einknicken – Lützerath, Dannenröder Forst –, weiß man, dass von CDU und FDP mehr zu befürchten ist als von ihnen. Der SPD und der Linken haben sie das ökologische Copyright voraus.

Und wie halten es die Grünen mit der Sozialpolitik? Hier dominierte lange die SPD. Für die CDU entdeckte deren Generalsekretär Heiner Geißler 1975 die »Neue Soziale Frage«. Sie betreffe Menschen, die ins Klassenraster von Kapital und Arbeit nicht immer passen, zum Beispiel arme kinderreiche Familien und notleidende kleine Selbständige sowie Rentner und Rentnerinnen mit unterbrochener Erwerbsbiografie. Später thematisierten die Grünen die Diskriminierung von Frauen, Behinderten und Menschen, deren sexuelle Orientierung von der herrschenden Norm abweicht. Dabei geht es nicht nur um sozioökonomischen Status, sondern auch um Unterdrückung und Emanzipation von Individuen.

Den Kern der Grünen-Basis bildet die Intelligenz. Sie legt Wert auf möglichst starke persönliche Selbstbestimmung. Wer diese auch für Menschen fordert, die in Autokratien leben müssen, kann zu dem Ergebnis kommen, deren Befreiung solle auch von außen unterstützt werden. Verbindet sich das mit ökonomischen Interessen sowie geopolitischen und militärischen Strategien, kann es zum Konflikt mit der vierten Losung aus den Anfängen der Grünen kommen: Gewaltfreiheit.

Die Entstehung dieser Partei war auch mit dem Kampf gegen die Stationierung von neuen US-Mittelstreckenraketen in Europa 1983 verbunden. Jetzt hält die grüne Außenministerin Annalena Baerbock Kriegsreden. Der Weg vom Pazifismus zum Bellizismus wurde schon früher eingeschlagen: 1999 beim Nato-Überfall auf Jugoslawien mit Beteiligung einer rot-grünen Bundesregierung. Damals sprach man davon, die Partei müsste jetzt wohl einen Teil ihrer Mitgliedschaft austauschen.

Dies dürfte inzwischen geschehen sein: Baerbock, 1980, im Gründungsjahr der Grünen, geboren, war beim Überfall auf Jugoslawien 19 Jahre alt. Ihr kann kaum vorgeworfen werden, irgendetwas verraten zu haben, was sie früher einmal besser wusste.

Wer den Grünen heute noch vorwirft, nicht mehr zu den Parolen von einst zu stehen, pfeift einem Zug hinterher, der längst abgefahren ist.

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