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Abschweifung mit Methode
Jan Faktors Roman »Trottel« ist eine tragikomische Vater-Sohn-Geschichte voller vermeintlicher Nebensächlichkeiten und Wortspielereien
Fast zwölf Jahre hat sich Jan Faktor an seinem Schelmenroman »Trottel« abgearbeitet und sich mit dem Freitod seines 33-jährigen Sohnes auseinandergesetzt. Mehr als 30 Jahre nach dem Ende der DDR lässt er das Durchwursteln der Wortkünstler im Prenzlauer Berg auferstehen. In der Tradition des Simplicisissimus und auf den Spuren von Jaroslav Hašeks »Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk« erzählt Faktor seine Lebensgeschichte, von 1968 bis 1989. Er erzählt von seiner Jugendzeit in Prag, seinem Pendeln nach Ostberlin und schließlich von seinem Leben mit Frau und Sohn an der Spree.
Mit einem vielstimmigen Vorspiel beginnt die »Trottel«-Lektüre. Auf dem heiligen Weiß des sonst leeren Einbandspiegels hat der Autor »Anregungen und Vorschläge für Rezensenten, nützliche Bonmots für Streitgespräche oder zukünftige Nackenschläge« bereitgestellt. Ganz nach dem Motto verschenke eine gute Selbstrezension, dann wird sie von den Journalisten abgeschrieben (was ein Teil von ihnen augenzwinkernd auch tatsächlich tat). In unterschiedlichsten Schriftarten bietet Faktor Selbstlob und Eigenkritiken an. Sie sehen aus wie eine Sammlung ausgeschnittener Zeitungsartikel an einer Pinnwand und zeichnen mitunter ein unbeholfenes Bild von dem Autor (»Für jede seiner vielen Fußnoten verdient dieser Mensch einen Stromschlag angemessener Stärke und Spannung«). Faktor bespielt alle gestalterischen Dimensionen. Auf dem Blatt hinter dem Titelblatt versteckt sich ein weiterer Kommentar, den man vom Abspann aus Kinofilmen kennt: »Es handelt sich bei diesem Buch um ein fiktionales Werk … Alle Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Ereignissen, Örtlichkeiten, lebenden oder toten Personen wären gänzlich zufällig«.
Trottel sollen freundliche Dummköpfe sein, eher fröhlich tapsig als aggressiv. Bei Faktor kommt der Trottel als ewige Labertasche daher, er kann es nicht lassen, zu schwadronieren bis die Schwarte kracht. Es geht vom Hölzchen zum Stöckchen und mit Kalauern wieder zurück. Es ist eine große Verzettelung. Die überbordende Fülle der Abschweifung hat Methode. Soll sie die unbegreifliche Leere eines großen Verlustes verdrängen? Aber eigentlich ist der Trottel mit der Welt zufrieden. Im Untertitel lässt uns Faktor wissen: »Was ist der Grund für meine gute Laune? Einfach alles.«
Zum Studium hatte sich der Held etwas Zukunftsweisendes ausgewählt, die »sich selbst dauerhaft besamende Digitalwissenschaft«. Doch das Studium war wie überall im realexistierenden Sozialismus mit einer hohen Dosis »ökonomischer Rettungsonanie« belastet und der Autor fürchtete um seine Leber. Die Flucht aus dem studentischen Alkoholismus endet als Brötchenausfahrer. Auf dem Wenzelsplatz lernt der Tollpatsch ein paar Ostberliner kennen, verliebt sich und heiratet die Tochter einer DDR-Literaturgröße. Seine spätere Ehefrau benutzt Faktor als charmante und abwesende Reflexionsebene. In der Widmung heißt es: »Mit Dank […] an meine Frau, die dieses Buch lieber nicht lesen sollte.« Die einmal gelegte Fährte wird fröhlich bespielt. Am Ende des zweiten Kapitels heißt es: »Meine Ehefrau ist ehrlich gesagt auch nicht ganz so helle. Aber egal – ich werde das später noch ausreichend würdigen. Das ›nicht ganz helle‹ war jetzt sowieso ganz und gar positiv gemeint.«
Faktor hasst und liebt auch das wissenschaftliche Arbeiten, den Bezug auf Walter Benjamin, Theodor W. Adorno oder Schriftstellerkollegen. Hinweise für die Leser findet man auch auf der Titelseite. Der bekennende Rammstein-Fan führt aus, dass die Anspielungen auf Songtexte »keine ironischen Missgriffe« sondern »harmlose Rätsel für kundige Kenner« sind. 262 profane Kommentare landen in den Fußnoten, es sind Sätze, die sonst keiner aufschreibt oder ein Lektor definitiv gestrichen hätte. Andere erstrecken sich über mehrere Seiten, als träumten sie von einem Aufenthalt in einer hochwissenschaftlichen Abhandlung. Doch der Autor schafft es immer wieder, die vermeintliche Idiotie spielerisch zu brechen und etwas Peinliches obendrauf zu blödeln. Bei der Besprechung von Beipackzetteln diverser Psychopharmaka fragt man sich allerdings schon, wo das noch hinführt oder ob hier das Testbild rauscht. Referenziell lässt sich das natürlich bestens verorten. Rezensenten werten dies gern als typische Reaktion auf ein suizidales Trauma. Das selbstironische Spiel mit der eigenen Unzulänglichkeit lässt den Leser schmunzeln. Dieses Muster prägt viele Schilderungen im Roman. Konsequent geht er immer einen Schritt weiter, stellt sich selbst infrage und konterkariert das Infragestellen, bevor eine Fußnote das Hinterfragen ins Lächerliche zieht. Der Autor liebt das Bad in verketteten Details und trocknet sich ab mit flapsigen Kommentaren. Auch das Fremdwörterbuch ist beim Lesen hilfreich, da Faktor gern mal ein sensorisches »Pelemele« (Mischmasch) oder »moribunde« (dem Tode nahe) Warteschleifen einstreut.
Faktors Trottel hat »auf Dauer erigierte Riechzentralen«. Sie lassen vertraute Dämpfe aus dem olfaktorischen Kosmos »Made in GDR« aufsteigen. Dann riecht es nach hart gekochten geschälten Eiern in den nach menschlichen Ausdünstungen müffelnden D-Zügen oder nach Pissrinne in einer Bierkneipe. Sprachlich ist Faktor sehr kreativ und schafft ein durchkomponiertes Wechselspiel aus Gedankenfetzen. Er spielt mit den Hintergründen der Worte, kombiniert Verben und Objekte aus unterschiedlichen Welten. Eigene Wortschöpfungen sind ebenfalls beliebt. Eine Adjektivflut endet gern an einem zusammengesetzten Substantiv. Besonders einprägsam und illustrativ sind Dreierkombinationen wie »Erzähldriftdrang«, »Emotionsejakulationsfreude« oder »Wohnraumbeschaffungsanarchie«. Nicht nur sprachlich, sondern auch kalligrafisch zieht Faktor alle Register – dies hier aufzulisten, würde allerdings zu weit führen.
In den Schilderungen Ost-Berlins kommen das Grau, der bröckelnde Putz und die Menschen im Vergleich zum Leben in Prag Ende der 60er Jahre besser weg. Es ist eine veritable Liebeserklärung mit Stöhnerchen »voller Abscheu«. Faktors Trottel ist ein geerdeter Freak mit vermeintlich literarischem Talent. Seine jugendliche Unbeschwertheit kommt im Laufe des Buches nach und nach abhanden. Das Unverständliche, das Unverstehbare wird umkreist und mit schwarzem Humor abgemildert, die Tragik bleibt: »Unser Sohn hat es in der Klinik nicht geschafft, sich umzubringen.«
Insgesamt ist ein Roman herausgekommen, der dem Leser zwinkernd den Stinkefinger zeigt. Gleichzeitig ist es ein großes Stück schmunzelnd atmosphärischer Trauerarbeit, ein Vater-Sohn-Roman, bedrückend und liebevoll zugleich. Leider oder strukturell unvermeidlich gibt es auch quälend lange Passagen zu überwinden. Der schwarze Humor, der vagabundierende Erzählstil, die schönen Anekdoten vom Liebesleben in der »Filinchen-Hauptstadt«, die Schilderungen von Rennradexkursionen oder das Projekt Chicorée-Aufzucht unterhalten und polarisieren. Merkwürdig leicht, menschenfreundlich und erträglich erscheint das damals Erlebte im heute gentrifizierten Bezirk.
Jan Faktor: Trottel. Kiepenheuer & Witsch, 397 S., geb., 24 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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