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- Handball-WM 2023
Der tiefergelegte Maulwurf
Kreisläufer Jannik Kohlbacher überzeugt bei der Handball-WM mit hoher Treffsicherheit
Alles sieht so leicht aus. Die Art, wie Kreisläufer Jannik Kohlbacher den Ball fängt und sich dann um den Gegenspieler wie um eine Slalomstange dreht, wirkt wie ein Kinderspiel. Dabei ist der 27-Jährige in der schwersten Gewichtsklasse unterwegs. Der Handballprofi von den Rhein-Neckar Löwen bringt bei 1,90 Meter Körpergröße insgesamt 116 Kilogramm auf die Waage. Doch dieses Gewicht setzt er, wie im letzten WM-Vorrundenspiel gegen Algerien (37:21) eindrucksvoll unterstrichen, sehr effektiv ein. Zehn Tore bei zehn Wurfversuchen notierten die Statistiker.
Alles noch kein Grund zur Euphorie, ließ Kohlbacher danach wissen. Die 4:0-Punkte, mit denen das deutsche Team nun in die Hauptrundengruppe 3 startet, seien zwar eine gute Ausgangsposition im Kampf um die dort zu vergebenen beiden Plätze fürs Viertelfinale. Aber Kohlbacher geht nicht mit denjenigen, die sich schon Gedanken machen über die großen Brocken Niederlande (am Samstag) und Norwegen (Montag). Er schaue nur auf den nächsten Gegner Argentinien, der bereits an diesem Donnerstag (18 Uhr, live in der ARD) in Katowice wartet: »Da müssen wir unsere Hausaufgaben machen.«
Die Basis für das Team von Bundestrainer Alfred Gislason indes ist viel besser, als viele Experten vor diesem Turnier erwartet hatten. Nicht nur die beiden jüngsten Profis im Team, die erst 22-jährigen Rückraumspieler Juri Knorr (Löwen) und Julian Köster (VfL Gummersbach), überzeugen mit erstaunlich reifen Auftritten. Gegen Algerien zeigte auch der sogenannte »zweite Anzug« eine starke Leistung. »Jeder hat gezeigt, warum er hier ist«, sagte Kohlbacher danach lässig. »Alfred kann also beruhigt durchwechseln.«
Diese Sicherheit für den Bundestrainer ist von zentraler Wichtigkeit für ein solches Mammutturnier, in dem die Handballprofis alle zwei Tage aufs Spielfeld marschieren. Wer am Ende um eine Medaille kämpfen will, muss die Einsatzzeiten während der Vor- und Hauptrunde auf alle Schultern verteilen, sonst kriechen die Spitzenkräfte in den K.-o.-Spielen später auf dem Zahnfleisch. Insofern wäre es ideal, wenn die Auswahl des Deutschen Handball-Bundes (DHB) auch den Außenseiter Argentinien früh dominieren und dann erneut die womöglich besten Spieler schonen könnte. Dazu sei aber eine weitere Leistungssteigerung nötig, sagt der Bundestrainer: »Wir müssen jedes Spiel zulegen, dann kann vieles passieren.«
In dem taktischen Kalkül Gislasons spielt Kohlbacher eine zentrale Rolle. Denn er ist neben Kapitän Johannes Golla (Flensburg-Handewitt) der einzige Kreisläufer im WM-Kader, was ungewöhnlich ist. Denn nicht nur im Angriff hat das Duo Schwerstarbeit zu leisten, um sich im Getümmel zu behaupten und sich den nötigen Freiraum zu verschaffen. Auch in der Abwehr ist der moderne Kreisläufer gefragt. Während Golla dort im Abwehrzentrum ackert, hat sich Kohlbacher auf der Halbposition im Klub zuletzt stark verbessert und hilft dort nun auch dem Nationalteam.
Absolute Weltklasse stellt der in Bensheim geborene Kohlbacher aber in der Offensive dar. In den bisherigen drei WM-Spielen in Polen kommt er bisher auf eine bemerkenswerte Trefferquote von 94 Prozent (16 Tore bei 17 Versuchen). Sein größtes Pfund: der extrem tiefe Körperschwerpunkt. Das macht es für seine Gegenspieler fast unmöglich, Kohlbacher zu halten, wenn er erst einmal den Ball gefangen hat. »Da musst du ihm einen Laster auf den Rücken kleben, dass er sich nicht reindreht«, juxte Gislason schon nach dem Vorrundensieg gegen Serbien.
Die Art und Weise, wie Kohlbacher sich durch die Wand der meist zwei Meter großen Abwehrspieler bohrt, haben Klubkollegen schon zu Analogien aus der Tierwelt provoziert. Der schwedische Torhüter Andreas Palicka nannte ihn bei den Löwen den »kleinen Maulwurf«, weil sich der Kreisläufer so unermüdlich durch die Defensive wühlt. Dieser Maulwurf ist aktuell aber auch so erfolgreich, weil er sich durch das gemeinsame Training nahezu blind mit Löwen-Spielmacher Knorr versteht. Diese Achse setzt Gislason nun vor allem ein, wenn sein Team aufgrund von Zeitstrafen in Überzahl spielt und noch mehr Platz auf dem Feld vorhanden ist. Man habe da, sagte Gislason, einfach »die Spielweise der Löwen kopiert«. Manchmal liegen die Dinge so einfach.
Auch Kohlbacher trägt also einen wesentlichen Teil dazu bei, dass die Spielweise der deutschen Mannschaft bisher so harmonisch wirkt. Jeder Einzelne scheint zu wissen, was sein Auftrag bei diesem Turnier ist. Dieses Gefühl vermittelte ein deutsches Team zuletzt unter Trainer Dagur Sigurdsson, der die DHB-Auswahl 2016 zu einem sensationellen EM-Triumph und danach zu Olympiabronze führte. Kohlbacher war, wie noch vier weitere Profis im aktuellen Kader (Andreas Wolff, Rune Dahmke, Simon Ernst, Kai Häfner), schon beim EM-Titel dabei, spielte aber eine wesentlich kleinere Rolle. Schon jetzt hat er sieben Tore mehr erzielt. Dass vor einem Titel sehr viel Schweiß nötig ist, das weiß er allein schon durch seine Herkunft – noch heute hilft der Hesse seinen Eltern auf ihrem Landwirtschaftshof.
Eine Medaille anzukündigen, würde ihm daher nie in den Sinn kommen. Kohlbacher, ein passionierter Angler, ist ohnehin eher ein Schweiger. Optimistisch ist er dennoch. »Unser Team ist breit aufgestellt, wir müssen uns nicht auf ein, zwei Superstars verlassen, auf die wir uns dann beschränken müssen«, hat er schon im Herbst gesagt. »Wir sind eine richtige Mannschaft.«
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