Wo stehen Russlands Antifaschisten?

Das Gedenken an Stanislaw Markelow und Anastasia Barburowa ist für russische Linke auch eine Frage nach der eigenen Positionierung

  • Varvara Kolotilova
  • Lesedauer: 4 Min.
Trotz Krieg und Repressionen versammelten sich Antifaschisten in Moskau, um an der Stelle, an der Stanislaw Markelow und Anastasia Baburowa 2009 ermordet wurden, Blumen niederzulegen.
Trotz Krieg und Repressionen versammelten sich Antifaschisten in Moskau, um an der Stelle, an der Stanislaw Markelow und Anastasia Baburowa 2009 ermordet wurden, Blumen niederzulegen.

Vor 14 Jahren wurden der Anwalt Stanislaw Markelow und die Journalistin Anastasia Baburowa an einem eiskalten Montag im Moskauer Stadtzentrum erschossen. Beide hatten einen linken politischen Hintergrund und waren im antifaschistischen Milieu fest verankert. Der 19. Januar ist seitdem ein wichtiger Gedenktag für Russlands Antifaschisten, der in diesem Jahr besonders hervorstach. Denn es ist der erste Jahrestag nach dem russischen Angriff auf die Ukraine.

Nicht nur in der russischen Hauptstadt, auch in Paris, Berlin, Vilnius, Riga, Tiflis, Jerewan und Stockholm fanden am Donnerstag Gedenkaktionen statt. In Moskau kamen merklich weniger Menschen zur Blumenniederlegung an den einstigen Tatort als in früheren Jahren. Wie schon häufig zuvor tauchten zudem Provokateure auf – drei Männer, deren Gesichter erfahrenen politischen Aktivisten nur allzu gut bekannt sind. Mit lautstarken Frotzeleien forderten sie die Anwesenden heraus: »Die beiden wurden doch von russischen Neonazis getötet, aber warum kümmert ihr euch nicht um die ukrainischen?«

Was heißt Antifaschismus in Russland?

Die Frage, wie man sich als Antifaschist in einem Land positioniert, das sich aufgrund des Sieges gegen NS-Deutschland den Antifaschismus für ewig auf die eigenen Fahnen geschrieben hat, stellt sich schon lange. Bedingt durch den Krieg und in den Staatsmedien transportierte rhetorische Argumentationsmuster wirkt die Situation noch komplexer: Wie lassen sich Neonazis und ihre Gewalttaten anprangern, wo doch im offiziellen russischen Sprachgebrauch dieser Begriff inzwischen de facto gleichgesetzt wird mit »ukrainischen Neonazis«? Und wo russische Streitkräfte im Nachbarland eine vermeintliche »Denazifizierung« betreiben?

Dabei ist es eine Tatsache, dass russische Neonazis Hunderte von Hassmorden zu verantworten haben. Weil der 19. Januar sich als symbolischer Gedenktag für deren Opfer etabliert hat, versuchte das Moskauer Veranstaltungskomitee der alljährlichen Demonstration, sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, und organisierte im Vorfeld Diskussionsrunden zum Antifaschismus im heutigen Russland. Am Gedenktag gab es wegen der gesetzlichen Restriktionen und verschärfter Repression für die Moskauer Aktion dieses Mal anders als sonst jedoch nur einen Aufruf, Blumen niederzulegen. Das in russischen Emigrantenkreisen initiierte internationale Komitee 19. Januar fand mit Verweis auf den zerstörerischen Krieg Russlands hingegen deutliche Worte: »Mit jedem Jahr konstatierte das Komitee eine zunehmende Faschisierung des russischen Regimes – nun nähert sich dieser Prozess offensichtlich seinem Höhepunkt. Gerade jetzt ist es wichtig, sich das Recht auf Bestimmung des Begriffs ›Antifaschismus‹ von der Staatsmacht zurückzuerobern.«

Tatbeteiligte sind teilweise immer noch frei

Jaroslaw Leontjew, Historiker und Professor an der Moskauer Lomonossow-Universität, treibt eher die Frage um, wie sich sein guter Freund Stanislaw Markelow unter den jetzigen Umständen verhalten würde. »Stas, der ja Antifaschist war, würde jetzt zweifellos gegen den Krieg auftreten«, sagte er im Gespräch mit »nd«. Gleichzeitig findet er es wichtig, auf wunde Punkte hinzuweisen. »Man darf nicht vergessen, dass Stas und Nastja Internationalisten waren.« In der Ukraine sei diese Haltung heute nicht gerne gesehen, aber das Gleiche gelte für Russland. Das mache seinen ermordeten Freund auch heute noch zu einer unbequemen Figur. »Vor dem 24. Februar hätte sich Stas, das ist meine persönliche Meinung, weiterhin mit den ukrainischen Neonazis befasst.«

Zum Verhängnis wurde Markelow allerdings die »Kampforganisation russischer Nationalisten«, kurz Born. Der Schütze, Nikita Tichonow, sitzt eine lebenslange Haftstrafe ab, seine Lebensgefährtin Jewgenija Chasis, die Schmiere stand, muss gemäß eines Entscheids des Obersten Gerichtshofs vom vergangenen Jahr statt 18 nur 17 Jahre absitzen. Ihr Anwalt hatte versucht, den Prozess gegen die Verurteilten neu aufzurollen, war damit aber gescheitert. Andere ebenfalls in den Mordfall verwickelte Personen blieben hingegen auf freiem Fuß, so auch der Neonazi Dmitrij Steschin, der als Kriegskorrespondent der Zeitung »Komsomolskaja Prawda« aus den von Russland besetzten Gebieten berichtet. Er hatte die Waffe besorgt, mit der Tichonow Markelow und Baburowa erschoss.

Der Krieg wirkt sich auch auf das Gedenken aus

Alexej Baranowskij wiederum, der Chasis ein falsches Alibi besorgt hatte und trotzdem nicht für seine Falschaussage vor Gericht belangt worden war, sympathisierte nach 2014 mit dem ukrainischen Asow-Regiment. Nach Kriegsbeginn setzte er sich in die Ukraine ab, wo er eng mit dem ehemaligen russischen Duma-Abgeordneten Ilja Ponomarjow kooperiert.

In der Ukraine fanden kriegsbedingt nur vereinzelt Blumenniederlegungen an für Antifaschisten symbolischen Orten statt. In früheren Jahren vereinte das Gedenken an Stanislaw Markelow und Anastasia Baburowa die antifaschistischen Bewegungen diesseits und jenseits der heutigen Frontlinien. Um an diese einstige Verbundenheit wieder anzuknüpfen, muss sich der russische Antifaschismus wahrscheinlich neu erfinden.

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