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Ein Retter in Not
Im Osten Berlins kämpft ein einzigartiges Zeitungsarchiv ums Überleben
Harald Wachowitz legt einen Schalter um und ein Lichtkegel nach dem anderen erleuchtet die leerstehende Industriehalle. Der 68-Jährige geht einen Säulengang entlang, schließt eine Stahltür auf und betritt seine Welt: meterlange Metallregale, gefüllt mit Ordnern und Boxen, ein Computer auf dem Tisch im Eingangsbereich. Es riecht nach altem Papier.
»Die Wände hier haben wir selbst reingebaut, eine Alarmanlage installiert und für alles gesorgt«, sagt Wachowitz. Millionen historischer Zeitungsartikel lagern im Zeitgeschichtlichen Archiv (ZGA), sie alle hat er mit seinem Verein, dem Berlin-Brandenburger Bildungswerk (BBB), seit Anfang der Neunziger vor der Vernichtung gerettet. Hier in Marzahn lagern die wertvollen Schriftstücke seit 2004.
Der Archivchef erinnert sich zurück: »Bis Ende 2021 war hier noch volles Haus. Es kamen Studenten, Rentner – alles durchmischt.« Heute stöbert hier außer Wachowitz fast niemand mehr. Das ZGA hat für den Publikumsverkehr geschlossen und bangt um seine Existenz. Auf dem stillgelegten Industriegelände an der Märkischen Allee soll ein Neubau entstehen, ein zentraler Fundus für die Berliner Opernstiftung. Bis dahin muss Wachowitz einen neuen Träger finden. Gelingt es ihm nicht, ist er dazu verpflichtet, die historischen Dokumente selbst zu entsorgen. »Ich möchte nicht derjenige sein, der sein eigenes Lebenswerk vernichtet«, sagt Wachowitz, während er in einem Ordner blättert. Seine Suche läuft bereits seit über einem Jahr.
Dass es nicht irgendeine verstaubte Sammlung sei, die vor ihrem Ende bewahrt werden solle, erklärt Wachowitz immer wieder. Er spricht vom »doppelten Blick«, von einem Archiv, das wie kein zweites die deutsch-deutsche Geschichte abbilde. »Man findet hier nicht nur die frühere Perspektive vom Osten auf den Westen, sondern auch umgekehrt.« Was den Umfang an Artikeln angehe, suche das Zeitgeschichtliche Archiv seinesgleichen: Das Haus der Geschichte in Bonn etwa kommt laut Wachowitz auf zwei Millionen Artikel. Im ZGA seien es mehr als 27 Millionen.
Allein 10 Millionen davon stammen aus dem 1971 gegründeten Institut für internationale Politik und Wirtschaft. Es forschte unter anderem zu Entwicklungen in der BRD und beriet die DDR-Führung in außenpolitischen Fragen. Aus Zeitungen in Ost und West sammelte es Presseartikel zu historischen Ereignissen. Ganz am Anfang des ZGA stehen allerdings die Hinterlassenschaften des Verlags »Neues Deutschland«, mit 140 unterschiedlichen Publikationsorganen das laut Wachowitz bedeutendste Pressearchiv der DDR. Zusammen mit dem BBB und zahlreichen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern bewahrte Wachowitz es 1994 vor der Vernichtung. »Das waren mehr als 100 Leute, Durchschnittsalter 75«, sagt er. »Wir haben alles gebündelt, zusammengeschnürt, verpackt.« Dabei hatte sich das BBB eigentlich gegründet, um politische Bildung in Sachen Antifaschismus zu betreiben.
Heute findet sich im Marzahner Archiv alles nur Erdenkliche: von Exoten wie dem »Kampfruf«, die Wochenzeitung der Bereitschaftspolizei, über die Frauenzeitschrift »Für Dich« bis hin zur »Wochenpost«, eine der auflagenstärksten Wochenzeitungen im Osten. »Vieles davon kennt man heute natürlich nicht mehr«, sagt Wachowitz. Doch das ZGA hat auch Bekannteres zu bieten: »Berliner Zeitung«, »Frankfurter Rundschau«, »Welt« und »Frankfurter Allgemeine«. Vom »Neuen Deutschland« liegen sämtliche Ausgaben von 1946 bis 1992 in der Marzahner Industriehalle – genauso wie das historische Pressearchiv des »Tagesspiegel«. »Mit der Zeit haben wir uns einen Namen gemacht als Retter in der Not«, sagt Wachowitz. »Die Verlage haben von ganz alleine angerufen, wenn sie nicht mehr wussten, wohin.« Eine Anfrage vom Hauptstadtbüro des »Spiegel« habe man sogar ablehnen müssen, das Archiv sei bereits aus allen Nähten geplatzt. Zugleich fand nicht nur Zeitungsmaterial seinen Weg nach Marzahn: Wachowitz erzählt von Originaltüren aus der früheren Haftanstalt in Rummelsburg, von einem historischen Wahlplakat aus dem 19. Jahrhundert und anderen Funden. »Man ist überrascht, was für Schätze hier schlummern.«
Besonders stolz ist Wachowitz auf das Sortierungssystem im ZGA, das im Laufe der Jahre aufgebaut wurde. »Man hat hier eine Erfassungstiefe, die es sonst nirgendwo gibt«, sagt er. In aufwändiger, händischer Arbeit habe man alles erfasst: Überschrift, Unterzeile, Inhalt, erwähnte Namen und Orte. Texte werden thematisch in Boxen und Ordner zusammengebracht, dann chronologisch sortiert. Rund neun Millionen Artikel sind per Online-Suche zu finden. Auf Wunsch wurden Artikel eingescannt und Kopien per Post verschickt.
Heute ist der Betreiberverein bereits Geschichte: Das BBB hat sich im November 2021 aufgelöst. Bis 2019 waren es Langzeitarbeitslose, die das ZGA am Leben hielten. Im Rahmen arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen beschrifteten sie Ordner, sortierten Akten und digitalisierten. »Das sind keine Menschen, die in der Hängematte liegen, sondern die aus den verschiedensten Gründen keine Arbeit mehr finden«, sagt Wachowitz. Irgendwann aber seien die Bedingungen für solche Maßnahmen immer absurder geworden, zu oft habe das Personal wechseln müssen.
In seinem Kampf gegen das Vergessen fühlt sich der Archivchef weitestgehend im Stich gelassen. Auch wenn der historische Wert des ZGA von allen Seiten anerkannt wird, bleibt es bisher bei Solidaritätsbekundungen. »Wir haben nur Absagen bekommen. Immer wieder ging es um die Größe des Archivs, um Platz und Geld.« Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linke) hatte sich 2021 für eine Übernahme durch die Staatsbibliothek ausgesprochen. Doch weder dort noch im Haus der Geschichte oder im Deutschen Historischen Museum in Berlin sieht man sich in der Lage, die Marzahner Sammlung unterzubringen.
Dankbar ist Wachowitz der ehemaligen Bezirkstadträtin für Kultur Julia Witt (Linke): »Sie hat uns immer begleitet, hat dabei geholfen, die Stolpersteine zu beseitigen.« Für einen Euro pro Quadratmeter konnte das ZGA in der Industriehalle unterkommen, die Nebenkosten wurden ihm erlassen. »Wir zahlen nur noch das Licht und den Computer«, sagt Wachowitz.
Der Archivchef rechnete bis zuletzt damit, dass der Abriss kurz bevorsteht. Anders habe er die Aussagen des Senats nicht deuten können. Auf Nachfrage von »nd« teilt die Senatsverwaltung für Kultur mit: »Wir sprechen in der Tat hier von einem Zeitraum von mehreren Jahren.« Derzeit werde an einer Machbarkeitsstudie zum Grundstück gearbeitet, »Umzugsdruck« gebe es vorerst nicht. Für Wachowitz ist es die beste Nachricht seit langem: »Das bringt uns immerhin Zeit, weiter zu kämpfen.« Er hofft, das Archiv in einer Halle des DDR-Museums Berlin unterzubringen. Sie muss allerdings erst noch gebaut werden.
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