Lizenz zum Verschmutzen

Immer mehr Firmen wollen klimaschädliche Emissionen kompensieren. Mit solchen CO2-Zertifikaten lässt sich das Gewissen beruhigen, aber der Klimawandel nicht stoppen

  • Manuel Grebenjak
  • Lesedauer: 7 Min.
Alles so schön grün hier – dank irgendwo anders gepflanzter Bäume.
Alles so schön grün hier – dank irgendwo anders gepflanzter Bäume.

Rund zwölf Stunden dauert ein Flug von Berlin in die indische Metropole Mumbai, inklusive Umstieg. Pro Passagier*in entsteht dabei ein Klimaschaden in Höhe von knapp vier Tonnen CO2. Das entspricht zwei Jahre lang Autofahren oder dem Doppelten der gesamten jährlichen CO2-Emission einer durchschnittlichen Person in Indien. Ein Urlaubsflug hat also einen hohen Preis für das Klima. Reisen mit gutem Gewissen verspricht dagegen die Klimakompensation mittels CO2-Zertifikaten: weitermachen wie bisher, wenn man im Gegenzug klimafreundliche Projekte finanziert, die Emissionen einsparen.

Auch viele Firmen investieren lieber in den Ausgleich ihrer klimaschädlichen Emissionen als diese selbst zu reduzieren. Und sogar Staaten können ihre Klimabilanz im Rahmen des Pariser Klimaabkommens durch Projekte in anderen Ländern aufbessern. Der Schlüssel dazu sind sogenannte CO2-Zertifikate. Sie werden durch Projekte generiert, die zum Klimaschutz beitragen sollen, etwa der Ausbau erneuerbarer Energien oder Aufforstung und Schutz von Waldgebieten, um deren CO2-Senkenfunktion zu erhalten. Solche Projekte können nach unterschiedlichen Standards zertifiziert werden und reduzieren oder binden CO2, was man sich mit dem Kauf eines Zertifikats anrechnen lassen kann. Dieses System schafft nicht nur gutes Gewissen, sondern reduziert Emissionen dort, wo es am effizientesten ist – so die Theorie.

Der Markt für Kompensationen wächst rasant: Allein jener für freiwillige Kompensation erreichte 2021 einen Wert von zwei Milliarden Dollar. Nun hat eine große gemeinsame Recherche der »Zeit« und des »Guardian« den schönen Schein dieser »Offsets« getrübt: Mehr als 90 Prozent der CO2-Zertifikate aus Waldschutzprojekten des weltweit größten Zertifizierers Verra, genutzt etwa von Netflix, Disney und Gucci, seien demnach wertlos, sparten keine Emissionen ein. Die Recherche wirft wichtige Fragen auf, die Kritik geht aber nicht weit genug. Es heißt darin, damit das System funktioniere, müsse »bloß jemand garantieren, dass das CO2 auch wirklich eingespart wird«. Das Problem ist aber nicht, dass viele CO2-Zertifikate nutzlos sind. Das Problem ist, dass wir Kompensation überhaupt akzeptieren, anstatt Emissionen an der Quelle zu stoppen.

Das wird etwa am Beispiel Gucci ersichtlich, das von »Zeit« und »Guardian« betrachtet wurde. So gibt das Modeunternehmen an, mittlerweile »CO2-neutral« zu sein. In Wahrheit verursacht es heute aber mehr klimaschädliche Gase als vor einigen Jahren – derzeit rund eine Million Tonnen CO2 pro Jahr. Weil es Kompensationszertifikate kauft, darf es sich trotzdem CO2-neutral nennen.

De Zukunft der Wälder ist ungewiss

Schauen wir in die Zukunft: Durch steigenden Druck aus Klimabewegung, Gesellschaft und Politik und stärkere Klimaziele werden immer mehr Firmen, ganze Branchen wie der Flugverkehr und auch Staaten in Zugzwang kommen, ihre Emissionen zu senken. Das bleibt zumindest zu hoffen. Dadurch wird die Nachfrage nach Kompensationszertifikaten steigen. Irgendwann stößt das System an Grenzen: Die real von Rodung bedrohte Waldfläche – darum geht es bei Waldschutz-Zertifikaten, wie sie Gucci kauft – ist nicht unendlich. Irgendwann werden alle von Rodung bedrohten Wälder durch CO2-Kompensationsprojekte geschützt (wenn auch nur theoretisch, dazu unten mehr) und auch andere Möglichkeiten zur Kompensation ausgeschöpft sein. Gleichzeitig bleiben die realen Emissionen der kompensierenden Firmen hoch. Dank Kompensation müssen sie ihre Produktion ja nicht wirklich umbauen, solange Politik und Kund*innen dieses Schlupfloch akzeptieren. Sie haben eine Lizenz zum Verschmutzen unserer Atmosphäre.

Doch es gibt schlicht nicht genug Land, um die Emissionen aller Firmen auszugleichen. Allein der Fossilenergiekonzern Shell müsste für seine erklärten Pläne zu »Netto-Null«-Emissionen eine Fläche dreimal so groß wie die Niederlande aufforsten, wie eine Analyse der NGO ActionAid zeigt. Und selbst wenn es auf der Welt genug Fläche für solche Projekte gäbe, würde es viel zu lange dauern, bis sie voll wirksam werden. Ein Baum braucht Jahrzehnte, um eine Tonne CO2 zu binden. Durch die Kompensationslüge verlieren wir wertvolle Zeit. Denn am Ende bewirkt die Möglichkeit der Klimakompensation vor allem eines: Sie weckt die Illusion, dass sich nichts verändern muss.

Fehler im bestehenden System hat die »Zeit«-Recherche gezeigt. So ist die Berechnung der wirklich durch ein bestimmtes Projekt kompensierten Emissionsmenge schwierig bis unmöglich. Entscheidend dabei ist die Zusätzlichkeit: Wäre ein Wald, der durch Geld aus Kompensationssystemen geschützt wird, andernfalls wirklich abgeholzt worden? Würde Aufforstung nicht auch aus staatlichen Quellen finanziert werden? Würden Windräder an geeigneten Stellen nicht auch aus anderen Quellen finanziert werden, sofern es für Investoren rentabel ist?

Dazu kommt, dass die Zukunft von Wäldern unsicher ist. Niemand kann garantieren, dass ein Wald, der zur Kompensation geschützt oder aufgeforstet wird, langfristig erhalten bleibt: Durch die Erderhitzung mehren sich Waldbrände rund um die Welt. Immer wieder sind davon auch Wälder betroffen, die Teil von Kompensationsprojekten sind. Zum Teil wird das mitbedacht und werden »Reserven« angelegt, also mehr Waldflächen zur Kompensation bereitgestellt – in der Regel allerdings viel zu wenige. In Kalifornien haben Waldbrände in weniger als zehn Jahren die gesamten für 100 Jahre gedachten Reserveflächen vernichtet, mit denen sich das Kompensationsprogramm des US-Staates absichern wollte, wie eine Analyse der Forschungsgruppe CarbonPlan zeigt. Allein die Waldbrände im Jahr 2020 haben geschätzte 127 Millionen Tonnen CO2 freigesetzt – das entspricht einem Sechstel aller jährlichen klimaschädlichen Emissionen von Deutschland.

Fragen der Gerechtigkeit

Ein weiteres Problem sind Ausweicheffekte. Der Sinn von Waldschutzprojekten ist es, spezielle Flächen gegen Abholzung abzusichern. Geht der Waldverlust aber insgesamt zurück, weil Rodungen sich in andere Gebiete verschieben, ist nichts gewonnen. Kompensation kann sogar dazu führen, dass mehr klimaschädliche Produkte produziert und gekauft werden, es kann ja schließlich kompensiert werden. Man spricht vom »Rebound-Effekt«.

Auch Fragen der Gerechtigkeit stellen sich: CO2-Kompensation wird oft für Aktivitäten genutzt, die nicht lebensnotwendig sind, wie etwa Flugreisen, oder für Luxusprodukte wie im Fall von Gucci. Dabei sollten dies die ersten sein, die wir im Sinne einer lebenswerten Zukunft für alle reduzieren. Im Gegensatz dazu steht, dass die meisten Kompensationsprojekte in Ländern des Globalen Südens, vor allem in Lateinamerika und Afrika, umgesetzt werden. Dabei kommt es zum »Land Grabbing«, wobei sich westliche Firmen Land aneignen, das von lokalen Bewohner*innen genutzt wird, oft von indigenen Gruppen, wie die Global Forest Coalition (GFC), ein internationaler Zusammenschluss von NGOs und indigenen Organisationen, beklagt. Souparna Lahiri von GFC berichtet, dass diese Gemeinschaften oft nicht ausreichend informiert würden und kein Recht auf Beteiligung an der Planung der Projekte hätten: »Die von den Projektentwicklern versprochenen positiven Nebeneffekte kommen nur selten bei den Menschen vor Ort an und sie erhalten nur selten einen Teil der durch die Projekte erzielten Finanzmittel.«

Klimakompensation ist kein System mit Fehlern, das System an sich ist der Fehler. Um die Erderhitzung zu stoppen, müssen wir die Emissionen unseres Energiesystems und aller Wirtschaftsbereiche auf null senken und gleichzeitig die Zerstörung von Wäldern und anderen Ökosystemen stoppen. Waldschutz ist keine Alternative zum Um- und Rückbau von klimaschädlichen Industrien, sondern muss unabhängig davon passieren. Dafür braucht es neue Abkommen auf internationaler Ebene und einen Abschied von nachweislich schädlichen Systemen und Akteuren wie Verra, die Profit aus Kompensation schlagen. Das bestätigt auch Souparna Lahiri: Klimaschutz werde nur mit einem deutlich schnelleren Umstieg auf erneuerbare Energien und nachhaltige Landwirtschaft mit einer Reduktion der Tierzucht gelingen. Voraussetzung dafür sei das Ende einer Klimapolitik, die von Konzerninteressen bestimmt wird. Die richtigen Verantwortlichen für den Schutz von Wäldern sind für Lahiri nicht Kompensationsunternehmen, sondern lokale und indigene Gemeinschaften: »Sie können den Klimawandel mit ihrem traditionellen Wissen bekämpfen und sollten gestärkt werden, um Wälder, biologische Vielfalt und natürliche Ressourcen zu erhalten, zu schützen und wiederherzustellen. Denn sie wissen, wie man in Harmonie mit der Natur lebt und eine symbiotische Beziehung eingeht. Sie sollten die Architekt*innen von echten Lösungen sein.«

Manuel Grebenjak ist politischer Ökologe, hat als Campaigner für verschiedene Umweltorganisationen gearbeitet und ist in der Klimabewegung aktiv.

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