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Wanderer zwischen den Welten

Vergessen und verachtet: Der deutsch-jüdische Autor Ernst Harthern machte die Transgender-Pionierin Lili Elbe berühmt

  • Volker Stahl, Stade
  • Lesedauer: 9 Min.
Die Lebensgeschichte von Lili Elbe ist nicht in Vergessenheit geraten, was Ernst Harthern zu verdanken ist.
Die Lebensgeschichte von Lili Elbe ist nicht in Vergessenheit geraten, was Ernst Harthern zu verdanken ist.

Seit ihrer Jugend habe sie ein Unbehagen an ihrer geschlechtlichen Identität verspürt, erzählt Clara. Vor etwa 20 Jahren begann die Transition der heute 45-Jährigen: Sie ergriff Maßnahmen zur Anpassung an ihr erlebtes Geschlecht, medizinische, juristische und soziale. Den Prozess schloss sie 2004 ab.

Ein Meilenstein auf ihrem Weg war ein Buch über Lili Elbe: »Ich fand das faszinierend.« Sie entdeckte es um das Jahr 2000 herum in der Landes- und Universitätsbibliothek in Dresden, wo sie damals lebte. Es wurde zum Kern einer Sammlung von 700 Büchern und 200 Filmen zu trans Themen, die Clara seit 2019 auf der Website »Lili-Elbe-Bibliothek« vorstellt.

»Lili Elbe. Ein Mensch wechselt sein Geschlecht« erschien 1932 in Dresden und blieb für viele Jahrzehnte das einzige Buch seiner Art in deutscher Sprache: die Geschichte einer, wie es damals noch hieß, »Geschlechtsumwandlung«, erzählt aus der Perspektive der Protagonistin. Inzwischen ist Lili Elbe weltbekannt. Erst am 28. Dezember 2022 ehrte Google die »Transgender-Pionierin« zu ihrem 140. Geburtstag mit einem vorübergehenden Logo der Suchmaschine.

Seit vorigem Jahr ist in Dresden eine Straße nach der Dänin benannt. Ein paar Gehminuten entfernt befindet sich auf dem Trinitatisfriedhof ihr Grab, das 2016 wiederhergestellt und feierlich eingeweiht wurde. Das Geld für den Grabstein kam aus Hollywood. 2015 war der Roman des US-Schriftstellers David Ebershoff »The Danish Girl« verfilmt und mit einem Oscar für die beste Nebenrolle bedacht worden.

Lili Elbe kam als Einar Wegener zur Welt. An der Kopenhagener Kunstakademie lernte er Gerda Gottlieb kennen, die er 1904 heiratete. Einar malte vor allem Landschaften und Architektur, Gerda Frauen. In ihren Kreisen sprach sich herum, dass das in den Titeln von Gerdas Gemälden »Lili« genannte Modell ihr Gatte war. Was wie Travestie anmutete, war ernst: Einar war mit männlichen wie weiblichen Geschlechtsorganen geboren worden.

In Paris, wo das Paar seit 1912 lebte, traf es auf Empfehlung einer Freundin im Sommer 1929 den Gynäkologen Kurt Warnekros, Leiter einer Frauenklinik in Dresden, bei dem sich der 47-jährige Einar Wegener im März 1930 in Berlin einer ersten geschlechtsangleichenden Operation unterzog. Weitere Eingriffe folgten im Mai 1930 und im Juni 1931 in Dresden.

Im Herbst 1930 war Lili nach Dänemark zurückgekehrt und erhielt neue Papiere auf den Namen Lili Ilse Elvenes. Die Ehe mit Gerda wurde annulliert, denn eine Frau kann in Dänemark erst seit 1989 mit einer Frau verheiratet sein. Am 12. September 1931 starb Lili in Dresden – an den Folgen der letzten Operation, wie es vielfach heißt. Dabei soll der Versuch unternommen worden sein, ihr eine Gebärmutter zu transplantieren, und die Abstoßungsreaktion habe sie nicht überlebt.

Möglicherweise war sie auch an Krebs erkrankt. Genau geklärt ist das nicht. Es gibt einen zweideutigen Brief vom Juni 1932. »Dann, fast völlig geheilt von dieser Operation, stellt sich ein altes Nierenleiden Einar Wegeners ein: Die Herzfunktionen ermüden, sie stirbt … an Einar Wegener.« Die Zeilen stammen von einem gewissen Niels Hoyer, der Lili zu Nachruhm verhalf. Hoyer selbst ist inzwischen so vergessen, dass er in einem Artikel des »Stern« über das Google-Doodle zu einem namenlosen »Journalisten« wird, der Lilis »Lebensbeichte« »für sie aufschrieb«.

Das Buch ist jedoch keine bloße Autobiografie eines Ghostwriters – was klar wird, sobald man mehr als den Titel zur Kenntnis nimmt. Die Handlung besteht über weite Strecken aus literarischen Schilderungen, alle Namen sind Pseudonyme. In der dänischen Erstausgabe von 1931 »Fra Mand til Kvinde« (Vom Mann zur Frau) wird der Autor gar nicht genannt. In der deutschen Fassung fungiert Niels Hoyer als Herausgeber »aus hinterlassenen Papieren«.

Dass seine Rolle über die eines Ghostwriters hinausging, stellte er Gerda gegenüber in einem Brief vom Januar 1933 klar, als »Man into Woman« in Vorbereitung war, die US-Ausgabe, die über eine Million Mal verkauft worden sein soll. Das Buch »verdankt ausschließlich meiner Zusammenarbeit mit Lili Elbe sein Erscheinen. Das Manuskript, das Lili Elbe und Sie, die Sie beide keine Schriftsteller sind, verfertigt hatten, hätte niemals einen seriösen Verleger gefunden.« Lilis Geschichte ging Anfang 1931 durch die dänische Presse, Hoyer selbst veröffentlichte einen Beitrag über Lilis Lebensgeschichte im Mai in einer deutschen Zeitschrift.

Hoyer selbst kannte sich aus mit Mystifizierungen. »Alle sollen es heute erfahren, dass Niels Hoyer im Gefängnis gesessen hat (…). Und sollen es auch wissen, dass er nicht Niels Hoyer heißt, sondern Ernst Ludwig Harthern-Jacobson. Und Harthern-Jacobson bin ich.« So begann seine Schrift »Notschrei«, die 1914 auf Vermittlung von Thomas Mann, von dem auch der Titel stammen soll, in den »Süddeutschen Monatsheften« gedruckt wurde.

Zu dem Zeitpunkt hatte Harthern als Hoyer seinen ersten und einzigen Roman veröffentlicht, »Axel Mertens Heimat«, in dem der 30-Jährige verschlüsselt und mit symbolistischem Pathos seinen Lebenslauf schildert. »Je weiter das Buch fortschreitet, umso zerfahrener erscheint es«, hieß es damals in einer Rezension. »Oft auch gerät die Erzählung in jene ungepflegte, billig-simple Sprache der nunmehr überwundenen Heimatromane.«

»Notschrei« dagegen ist eine schonungslose Autobiografie über das Scheitern, die von der Wucht der Tatsachen lebt. Ernst Harthern wurde am 7. September 1884 in der Kleinstadt Stade bei Hamburg geboren. Sein Vater verließ die Familie, als er fünf Jahre alt war; vier Jahre später starb die Mutter. Er wuchs bei einer Tante auf, mit der ihn eine »abgründige Abneigung« verband. »Als Volksschüler«, erinnerte er sich 1959 in einem Brief, »erlebte ich das ›Aufschlussreichste‹ meiner Herkunft, da hörte ich zum allerersten Mal: ›Du verfluchter Judenbengel.‹«

Mit 16 wurde er nach Halberstadt geschickt, »in die Zucht von kaufmännischen Kontoren«. Doch die Bank, bei der er eine Lehre machte, ging ein halbes Jahr später Konkurs. Damit begann eine Irrfahrt, die ihn, oft hungernd und obdachlos, nach Berlin, Weimar, Solingen, München und Wien verschlug. Mietschulden und Unterschlagung brachten ihn ins Gefängnis, wo er Gedichte verfasste, die von der Zeitschrift »Jugend« angenommen wurden. In Frankfurt am Main unternahm er einen Suizidversuch. Die Kugel, die er sich in die Brust schoss, blieb im Rücken stecken.

Als er 1910 für mehrere Monate im Hamburger Hafenkrankenhaus lag, vermittelte ihm ein Redakteur des »Fremdenblatts« Unterkunft und Arbeit als Zeitungskorrespondent in Kopenhagen. Seit 1912 übersetzte er skandinavische Literatur. Inzwischen lebte er in Kristiania (heute Oslo). Aus der Heirat mit einer Norwegerin gingen zwei Kinder hervor. Er schien zur Ruhe gekommen zu sein.

Im Ersten Weltkrieg gingen Gerüchte um, er sei ein Spion. Das Justizministerium sprach ihn im Juni 1917 aber von jedem Verdacht frei. Nach Kriegsende ging Harthern mit seiner Familie nach Deutschland; ab Oktober 1919 hielt er sich wieder in Stade auf, so wie er es Jahre zuvor in »Notschrei« erträumt hatte: »Um endlich in meiner Geburtsstadt Stade, die keiner so liebt wie ich, die keinem so gehört wie mir, in der keiner so tief wurzelt wie ich (…) ein Zuhause für immer zu finden, um mich dort erfüllen zu können, als Mensch, als Künstler.«

Doch er blieb nicht lange. Im Juli 1924 meldete er sich nach Den Haag ab. Einer Mitteilung seiner Tochter zufolge sollen antisemitische Anfeindungen den Anlass gegeben haben. Ab 1926 belieferte Harthern von Kopenhagen aus die 200 Zeitungen des deutschnational orientierten Scherl-Verlages mit Nachrichten und Feuilletons aus Dänemark und Norwegen. 1931 heiratete er ein zweites Mal, die Schauspielerin Maria Garland, die selbst als Übersetzerin tätig war: Von ihr stammt die dänische Ausgabe von Lion Feuchtwangers »Jud Süß«.

Am 31. März 1933 endete diese Epoche: Scherl entließ ihn. Schließlich verfügte der Reichsverband der Deutschen Presse ein Berufsverbot, auf das Harthern im Januar 1934 trotzig erwiderte: »Ich bin und bleibe Deutscher. Ich kann nie etwas anderes sein.« Daran hielt er auch fest, nachdem er im Sommer 1933 eine Reportage-Reise nach Palästina unternommen hatte, über die das Buch »Heimwärts« erschien: »Habe ich denn eine andere Heimat als Deutschland mit den vielen Gräbern meiner Ahnen?« Der Bericht einer zweiten Reise, vom Dezember 1935 bis Mai 1936, lautete in der englischen Ausgabe zwar »Home at last«. Aber anders als sein Sohn Holger zog er die Ansiedlung in »Erez Israel« nie in Betracht.

Die Deutschen verfolgten ihn weiter: 1943 floh der 59-Jährige aus Dänemark nach Sigtuna in Südschweden. Er ging eine dritte Ehe ein, übersetzte weiter, aber seine eigene literarische Produktion versiegte. »Einer schreibt einen Brief an sich selbst«, die auf Tonbändern aufgenommene Autobiografie, ist verschollen und blieb vermutlich unvollendet, als er am 8. Juni 1969 starb.

Seine Aufzeichnungen zu Lili Elbe haben dagegen überlebt: 1953 wurden sie erneut in New York veröffentlicht, 1954 als »Wandlung« vom Leipziger Tauchnitz-Verlag wiederaufgelegt. 2019 kam die deutsche Fassung noch einmal in die Buchhandlungen, herausgegeben vom Bebra-Verlag, und seit 2020 gibt es eine »Comparative Scholarly Edition« mit allen Varianten und wissenschaftlichem Apparat.

Als die Germanistik sich in den 70er Jahren verstärkt den einst verfolgten Literaten widmete, geriet allerdings Harthern nicht in ihren Blick. Schon gar nicht in seiner Heimatstadt. Als 1994 das 1000-jährige Jubiläum Stades gefeiert wurde, kam Harthern im Festprogramm so wenig vor wie Juden überhaupt. Auch im »Stadtlexikon«, das jede Lokalgröße auflistete, wurde er nicht erwähnt.

Immerhin würdigte der Historiker Hartmut Lohmann Harthern 1991 in seinem Buch über den Nationalsozialismus im Landkreis Stade. Als es den Autor Uwe Ruprecht 1993 nach Stade verschlug und er beim Herausgeber, dem Landkreis, nach dem Buch fragte, wurde er jedoch schnöde abgefertigt: Damit habe man nichts zu tun, hieß es. Offenbar gab es in Teilen der Stadtgesellschaft noch immer Vorbehalte gegenüber einer Aufarbeitung der NS-Zeit.

Es sollte noch dauern, bis Harthern in seiner Heimatstadt für sein Schaffen gewürdigt wurde. Ein erstes Zeichen setzten Ruprecht und zwei Mitstreiter, als sie zu dessen 110. Geburtstag 1994 eine behelfsmäßige Gedenktafel an seinem Geburtshaus anbrachten. Ein Jahr später veranstaltete die Stadt eine Tagung, die Harthern als »Kulturvermittler zwischen Skandinavien und Deutschland« vorstellte. 1996 weihten dann Repräsentanten der Stadt eine offizielle Tafel am Geburtshaus ein. Der Literaturwissenschaftler Jörn Bosse wurde beauftragt, einen Band mit ausgewählten Werken Hartherns zu erarbeiten.

Als das Buch 2009 vorgestellt wurde, hieß es in der Pressemitteilung, mit seiner Erstellung sei »bereits vor über 10 Jahren begonnen worden«. Tatsächlich hatte Bosse seine Recherchen in Archiven und bei Hartherns Familie allerdings schon 1998 abgeschlossen. Dann war das Projekt in der Schublade verschwunden. Die Kartons mit den Büchern lagerten im Stadtarchiv. Offenbar gab es lange kein Interesse an einer Verbreitung.

In dem 400 Seiten umfassenden Buch von Bosse fehlt ein Brief mit Hartherns Erinnerungen an seinen letzten Besuch in der Heimat 1954: »Nach Stade habe ich eigentlich wenig Sehnsucht. In der Gegend soll es noch eine Anzahl ›Unverbesserlicher‹ geben.« Der Vorschlag, eine Straße nach dem Autor zu benennen, wurde zuletzt 2012 »aufgrund von ambivalenten Äußerungen« Hartherns zum Nationalsozialismus »vorerst zurückgestellt«.

Zur Premiere von »The Danish Girl« 2016 widmete die Lokalzeitung dem Ungeliebten einen Artikel, in dem der ehedem von den Nazis Ausgebürgerte als »Ex-Stader« bezeichnet wurde. In der Stadt, die keine Gelegenheit auslässt, sich ihrer Partnerschaft mit dem schwedischen Karlshamn und, früher mit »Schwedenwochen« und heute bei »Hanse-Tagen«, ihrer guten Beziehungen nach Skandinavien zu rühmen, wird der »Kulturvermittler« Harthern nach wie vor mit spitzen Fingern angefasst.

Nach dem Kriegsende kehrte Ernst Harthern nicht mehr dauerhaft nach Deutschland zurück. Er blieb in Skandinavien.
Nach dem Kriegsende kehrte Ernst Harthern nicht mehr dauerhaft nach Deutschland zurück. Er blieb in Skandinavien.
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