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Bis die Masken fallen

Im Film »Wann kommst du meine Wunden küssen?« treffen ehemalige Partyfreunde nach langer Zeit wieder aufeinander

Es gibt doch noch was zu lachen: Kathi (Katarina Schröter, links) und Maria (Bibiana Beglau)
Es gibt doch noch was zu lachen: Kathi (Katarina Schröter, links) und Maria (Bibiana Beglau)

So ungefähr im Alter von Anfang bis Mitte Vierzig wird es Zeit, erste Bilanz über sein Leben zu ziehen. Die Phase, in der man sich noch mühsam einbilden konnte, eine gewisse Jugendlichkeit in sich zu tragen beziehungsweise auszustrahlen, ist endgültig vorbei, das Erwachsenwerden lässt sich beim besten Willen nicht länger hinauszögern. Lebensentscheidungen sind getroffen, die Optionen werden weniger, und, um es frei nach Rilke zu sagen: Wer jetzt keine Kinder hat, kriegt keine mehr, was ungerechterweise Frauen eher betrifft als Männer. Blöd, wenn man wie Maria (Bibiana Beglau) den Absprung vom flotten Leben verpasst hat und nun sich und allen anderen die erfolgreiche Freiberuflerin vorspielen muss, in Wirklichkeit jedoch auf ganzer Linie gescheitert ist, beruflich und privat. Bereits die erste Szene des großartigen Ensemblefilms »Wann kommst du meine Wunden küssen?« macht klar, wie es um Maria steht, als der Ex ihr mit Rührung in der Stimme von dem Wunder seiner späten Vaterschaft mit der Neuen vorschwärmt – nicht merkend, welchen Stich er ihr damit versetzt – und sie gleichzeitig mit Drogen versorgt und mit Geld aushilft.

Das Geld benötigt Maria, um zu ihren ehemals besten Freunden aus den wilden Berliner Partyzeiten zu fahren. Diese haben sich im Gegensatz zu ihr rechtzeitig besonnen und den alten Bauernhof im Schwarzwald übernommen, auf dem Maria mit ihrer Schwester Kathi (Katarina Schröter) aufgewachsen ist und der ihr zu einem Teil gehört. Kathi ist inzwischen unheilbar an Krebs erkrankt, der Hof wird nunmehr von der damit überforderten alten Gefährtin und ehemaligen Schauspielerin Laura (Gina Henkel) und deren Freund Jan (Alexander Fehling) mehr schlecht als recht geführt. Jan war einst Marias große Liebe und möchte eigentlich viel lieber DJ sein und Musik machen als den Stall ausmisten. Auch auf Kinder hat er noch nicht so wirklich Lust. Laura dagegen will nicht mehr warten, was wiederum den heimlichen Liebhaber Michi (Godehard Giese) in die Bredouille bringt, denn dieser hat schon vier davon. Die Gemengelage ist hiermit längst nicht erschöpfend beschrieben, aber schon aus dieser kurzen Übersicht über das Beziehungsgefüge wird unschwer ersichtlich, dass es knallt, knallen muss. Mit Marias Ankunft auf dem Hof brechen all die alten, sorgsam verdrängten Konflikte und Widersprüche auf und wollen ausgetragen sein.

Nun kennt der geübte Zuschauer solche Wiedersehen-nach-langer-Zeit-Konstellationen, in denen emotionale Altlasten neu verteilt werden, aus zig mehr oder weniger gelungenen Filmen. »Wann kommst du meine Wunden küssen?« ist anders und ziemlich aufregend, was zum einen an der sehr genauen Figurenzeichnung in einem ausgereiften Skript und an der gekonnten Inszenierung liegt. Zum anderen sind die behandelten Konfliktlagen dicht am Leben, sodass der Zuschauer sich ernst genommen fühlt und in den Figuren wiederfindet. Was selbstverständlich klingt, ist es oft eben nicht. Das deutsche Filmschaffen ist ja nicht gerade bekannt dafür, die soziale Struktur des Landes repräsentativ abzubilden. In aller Regel residieren die handelnden Personen in den üblichen (Fernseh-) Filmen irgendwo in der Familienvilla, gerne mit Chefarzthintergrund, und haben entsprechende Probleme. Das ist fern von der Lebenswelt vieler Zuschauer. Menschen wie Maria oder Jan kennt hingegen jeder in seinem weiteren Bekanntenkreis.

Regisseurin Hanna Doose hat für den Film mit Schauspielern gearbeitet, deren Werdegang sie lange verfolgt hat. Daher benötigte sie keine Castings, um die Hauptrollen zu besetzen. Das Vertrauensverhältnis zwischen Doose und den Darstellern war die Voraussetzung dafür, die Dialoge am Set zu improvisieren und frei entstehen zu lassen. Vorgegeben war lediglich der Rahmen, also das, was in der jeweiligen Szene passieren soll. Die konkrete Umsetzung oblag der persönlichen Interpretation und dem freien Spiel zwischen den Darstellern, was im Ergebnis ziemlich frisch und authentisch rüberkommt. In vielen Szenen, in denen die Kontrahenten miteinander streiten und sich unerbittlich gegenseitig den Spiegel und ihre Lebenslügen vorhalten, bis die Masken fallen, ist man überrascht davon, wie echt die Dialoge wirken. Sie enthalten all die Redundanz, die gegenseitigen Vorwürfe und das Ringen um die richtigen Worte, die verbale Auseinandersetzungen so an sich haben, und wären in einem gewöhnlichen Drehbuch eines geübten Autors wohl glatter dahergekommen. Dadurch, dass sich die Darsteller mit ihrer eigenen Persönlichkeit in ihre Figuren einbringen durften oder sollten, erzählt Doose ihre Geschichte auf sehr eindrückliche Weise.

Vor der grandiosen Kulisse des winterlichen Schwarzwalds entfaltet sich schließlich ein kammerspielartiges Panorama aus geplatzten Lebensträumen, schlechtem Gewissen, Schuld, Angst vor Liebesverlust, Einsamkeit und Tod, untermalt von dem treibenden Soundtrack des französischen DJ Kangding Ray. Am Ende ist nichts mehr, wie es schien, sind alle Gewissheiten dahin. Nur dass Kathi bald sterben wird, steht fest, und interessanterweise ist es gerade diese Tatsache, die Halt vermittelt und die Protagonisten dazu bringt, über den Sinn des eigenen Tuns nachzudenken. Die Konfrontation mit sich selbst und der Vergänglichkeit gibt ihnen schließlich die Chance, erwachsen zu werden und in eine neue Lebensphase einzutreten.

»Wann kommst du meine Wunden küssen?«, Deutschland 2022. Regie und Drehbuch: Hanna Doose. Mit: Bibiana Beglau, Katarina Schröter, Godehard Giese, Alexander Fehling, Gina Henkel. 115 Min. Jetzt im Kino.

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