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Zwischen Turban und Torpedo

Europas verhinderte Kulturhauptstadt Rijeka wurde durch die Pandemie ausgebremst – jetzt pulsiert hier das Leben

  • Karsten-Thilo Raab
  • Lesedauer: 5 Min.

Eigentlich wollte sich Rijeka im Jahr 2020 als Europas Kulturhauptstadt ins internationale Rampenlicht katapultieren. Trotz jahrelanger akribischer Vorbereitung wurde das prestigeträchtige Vorhaben weitgehend vom Coronavirus im Keim erstickt. Die pandemiebedingten Reisebeschränkungen sorgten dafür, dass sich die mit 125 000 Einwohnern drittgrößte Stadt Kroatiens nicht wie erhofft einem internationalen Publikum präsentieren konnte. Dabei hat die Hafenstadt am Nordende der inselreichen Kvarner Bucht nicht nur für Kulturbeflissene einiges zu bieten.

Wie einst Berlin war Rijeka über Jahrzehnte eine geteilte Stadt, jedoch ohne Mauer. Stattdessen bildete der Fluss Rječina lange Jahre eine Staatsgrenze inmitten der Stadt. Von 1465 bis 1918 gehörte Fiume oder St. Veit am Flaum, wie Rijeka die meiste Zeit genannt wurde, mit kurzen Unterbrechungen zur Habsburger Monarchie. Nach dem Ersten Weltkrieg genoss Fiume von 1920 bis 1924 den Status eines unabhängigen Freistaates, ehe es Italien zugeschlagen wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Rijeka auf Geheiß der alliierten Siegermächte an die Volksrepublik Jugoslawien angegliedert, bevor es 1991 mit dem Ende Jugoslawiens Teil Kroatiens wurde.

Reiseinfos
  • Touristische Infos:
    www.visitrijeka.eu; www.kvarner.hr
  • Anreise: Eurowings bietet von vielen deutschen Flughäfen ab 29,99 Euro Direktflüge nach Rijeka.

    »Es ist schon verrückt. Hochbetagte Menschen besaßen im Laufe ihres Lebens fünf verschiedene Nationalitäten, ohne jemals die Stadt verlassen zu haben«, sagt Martina Spincic mit Blick auf die bewegte Geschichte von Rijeka, das im Jahre 1750 bei einem schweren Erdbeben fast komplett zerstört wurde. »Unter dem historischen Mäntelchen hat sich Rijeka zu einer pulsierenden Metropole mit zahlreichen Attraktionen entwickelt«, ergänzt die eloquente Stadtführerin mit dem blondbraunen Haar und der farblich fast identischen Bluse nicht ohne Stolz.

    Dabei ist Spincic bewusst, dass das Stadtbild durchaus konträr ist. Am Wasser dominieren imposante Paläste und Prachtbauten aus der österreichisch-ungarischen Monarchie, während sich am Rande der Innenstadt nur bedingt ansehnliche Industriebauten sowie Plattenbauten und Hochhäuser aus der sozialistischen Tito-Ära in die Höhe strecken. Überragt wird Rijeka von der mittelalterlichen Festung Trsat und dem angrenzenden Kloster, zu dem 561 Stufen hinaufführen. Von dort bietet sich ein herrlicher Panoramablick auf die Hafenstadt, die Kvarner Bucht und das nahe gelegene Ucka-Gebirge.

    »Rijeka hat sogar seinen eigenen schiefen Turm. Da ist auch weniger Rummel als in Pisa«, nennt Spincic augenzwinkernd eine weitere Besonderheit. Ein paar Meter neben dem Mariendom, der mit seiner barocken Ausstattung punktet, erhebt sich das 33 Meter hohe Kalksteingemäuer, das sich gut sichtbar um 40 Zentimeter zur Seite neigt. Markantester Turm und Wahrzeichen der Stadt ist jedoch der Stadtturm im Herzen der Altstadt. Zu seinen Füßen breitet sich mit dem Korzo die wichtigste Flanier- und Einkaufsmeile Rijekas aus, mit zahlreichen imposanten Prunkfassaden. Auffällig ist hier auch die hohe Zahl von Cafés mit Außengastronomie.

    »Wenn wir Kaffee trinken, sind wir alle Hobbypolitiker und -philosophen – vor allem unter freiem Himmel«, meint Spincic. Dann wird sie für einen Moment ganz ruhig. Nachdenklich bilanziert sie, dass kaum eine andere Stadt in Kroatien in den letzten Jahrzehnten einen größeren Einwohnerverlust zu beklagen hatte als Rijeka. »Die Industrie ist weitgehend verschwunden. Die ehemals staatlichen Unternehmen konnten nach dem Zusammenbruch des Sozialismus nicht mehr wirtschaftlich agieren«, erläutert die Gästeführerin, um sich dann wieder den Besonderheiten ihrer Heimatstadt zu widmen. Dazu gehören etwa das römische Portal Rimski Luk aus dem 4. Jahrhundert, der Palast des Industriellen Hannibal Ploech, die imposante Marineakademie und die gut 100 Jahre alte Kapuzinerkirche Maria Lourdes. Nicht zu vergessen der runde Kirchenbau Sv. Vid mit seiner mächtigen Kuppel.

    Während in den Mauern des barocken Gotteshauses eine Kanonenkugel als stumme Zeugin eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen den französischen Besatzern und den Engländern anprangert, geht es nur wenige Meter entfernt hinab in Rijekas Unterwelt. Angelegt wurde das Tunnelsystem unter der Altstadt zum Schutze der Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs. Noch heute ist in dem 350 Meter langen Gangsystem der Hauch der Geschichte zu spüren.

    Ganz eng ist Rijekas Historie auch mit der Kriegsmaschinerie verknüpft. Denn der einheimische Ingenieur Giovanni Luppis (Kroatisch: Ivan Lupis-Vukič) entwickelte um das Jahr 1860 den ersten schraubenbetriebenen Torpedo der Welt und veränderte so die Kriegsführung in den Weltmeeren entscheidend. Der englische Ingenieur und Geschäftsmann Robert Whitehead gründete schließlich 1873 in Fiume eine erste Torpedofabrik. Deren Test-Abschussrampe kann noch heute in Augenschein genommen werden.

    Die Brücke zwischen der Vergangenheit und dem Jetzt wird zudem eindrucksvoll auf dem Bencic-Gelände geschlagen. Das ehemalige Fabrikgelände avanciert nach Investitionen in Millionenhöhe heute zur kulturellen Drehscheibe von Rijeka. Neben der Stadtbibliothek sind hier ein Kreativzentrum für Kinder, ein Kunstkino, ein Puppentheater, das Stadtmuseum sowie das Museum für moderne und zeitgenössische Kunst (MMSU) angesiedelt.

    »Ein Symbol für die bewegte Vergangenheit Rijekas ist der Morčić, ein schwarzer Kopf mit Turban, der an vielen Ecken der Stadt zu finden ist«, erzählt Spincic mit Blick auf ein geschichtsträchtiges Ereignis, das noch heute allgegenwärtig ist: Der Legende nach wollten die Türken die Stadt erobern, wurden aber von einigen Wagemutigen mit Steinen vertrieben. Auf der Flucht sollen sie ihre Turbane verloren haben. Seither gilt die Kopfbedeckung als Glückssymbol in Rijeka.

    Ein wenig sonnt sich die auf fünf Hügeln errichtete Hafenstadt zudem im filmischen Ruhm. Schließlich wurden Teile der legendären Winnetou-Filme im Speckgürtel von Rijeka gedreht. »Wenn man bei den Filmen genau hinschaut, soll man angeblich unsere typisch orangefarbenen Busse als Reflektion sehen können«, beteuert Spincic, um gleich den Bogen zu einer weiteren Besonderheit zu schlagen. Denn Anfang des 20. Jahrhunderts war Rijeka für Hunderttausende verzweifelter Menschen Startpunkt für die Auswanderung nach Amerika. Ab 1903 gab es eine Direktverbindung nach New York. Im Jahr 1906 erlebte die Emigration einen Höhepunkt, als sich fast 50 000 Auswanderer von Rijeka aus nach Amerika einschifften. Und irgendwie scheint es, als würde die 1,7 Kilometer lange Hafenmole symbolisch für die Sehnsüchte der Auswanderer stehen.

    Nur einen Steinwurf entfernt weiß das kroatische Nationaltheater seit 1885 die Kulturbeflissenen und Besserverdienenden in seinen Bann zu ziehen. Direkt gegenüber tummelt sich derweil Otto Normalverbraucher, um sich in den drei historischen Markthallen täglich mit frischem Obst, Gemüse, Fleisch und Fisch einzudecken. Wie überall in Rijeka liegen auch hier das Gestern und das Morgen eng beieinander.

    Die Recherche wurde unterstützt von Kvarner Tourismus und dem A.R.T.-Redaktionsteam.

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