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Im Klirren ein Kichern
Schauspielregisseur des ruhigen Herzschlags: Zum Tod des Intendanten Jürgen Flimm
Hört die Musik auf, dann heißt jenes blasse Erlebnis, das danach kommt, immer nur: Armut. Sprache könnte da nichts wiedergutmachen, gar nichts. Reiner Ausdruck ist einzig in der Musik möglich. Wortschöpfungen gehen nie ganz auf in Poesie, immer bleibt ein Inhalt bestehen, jenseits des Ausdrucks.
In Henry Purcells Oper »King Arthur« von 1691 lässt sich die Musik auf eine zaubertolle Begegnung mit Sprache ein. Das Werk verbindet Komposition mit einem Schauspiel von John Dryden, und mit Nikolaus Harnoncourt als Dirigent und Jürgen Flimm als Regisseur kamen bei den Salzburger Festspielen von 2004 zwei hinzu, die sich bereits in mehreren gemeinsamen Inszenierungen, etwa von Strauss und Offenbach, als Lust-Duo der besonderen Art erwiesen hatten: Theater als heftiger Spaß, als träumerische Rückkehr der Kulturbetriebsmüden in den Sandkasten des ungetrübten Herumtollens.
Die jetzige Erinnerung an diese lang zurückliegende Aufführung ist keine zufällige. Denn darin lebt Jürgen Flimm so vollkommen auf wie in kaum einer anderen Arbeit. In Interviews nach jenem Sommer sagte er gern: »Alles, was du siehst, kann Täuschung sein.« Ein zentraler Satz vom Zauberer Merlin in »King Arthur«. Was für einen Zauberwald gilt, darf fürs Leben allemal gelten: Es lebe der schöne Schein, mehr Verlässlichkeit ist nicht mehr zu haben.
Flimm inszenierte damals, als sei soeben eine freundliche Übernahme geschehen – des bedeutendsten europäischen Sommer-Festivals durch sämtliche Kindertheater der Welt. Mit Luftgeistern und Goldregen, mit Pinguintanz und Zaubersprüchen: dem dirigierenden Herrn Harnoncourt wurde, wenn die Handlung frostig wurde, einfach eine Pudelmütze aufgesetzt. Seinen Musikern auch. Das war ganz Flimm, zu jeder Zeit, an allen Orten. Mitunter wirkte er in seiner altmodisch-sanften Strubbeligkeit wie eine Mischung aus Woody Allen und Carl Spitzweg.
Der 1941 in Gießen geborene Sohn eines Arztes, der auch am Theater tätig war, studierte Germanistik und Soziologie, assistierte bei Hans Schweikart und Fritz Kortner in München, inszenierte in Mannheim, Frankfurt (Main), Köln und New York. 15 Jahre hat er das Hamburger Thalia-Theater bestens geleitet, er führte es in die verlässliche Dauer eines starken Ensembles. Sein Erfolg als Intendant: Er war der selbstironische Pathos-Prinzipal. Er duldete neben sich erstklassige Regisseure, er konnte mit einem Ensemble umgehen – und mit Geld.
Mitbestimmungsmodellen gegenüber blieb er skeptisch, ein Chef dürfe sich nicht von Mehrheitsentscheidungen abhängig machen, meinte er. Den Streit um dieses Thema fürchtete er nie, aber er misstraute einer Hierarchiekritik, die ihrerseits aktivistisch und absolut auftritt.
Politisches Engagement galt ihm viel, sei es beim Kampf gegen die Schließung des Bremer Theaters Anfang der 80er Jahre, sei es ein kleiner, aber erfolgreicher Amoklauf gegen einen Gustav-Gründgens-Preis des Deutschen Bühnenvereins. Flimm, später Präsident dieser Interessenvertretung, drohte damals mit dem Austritt aus dem Verein. Denn in den Augen des Achtundsechzigers sei der Preis eine »Hofierung eines reaktionären Theaters im ästhetischen System der Nazis«.
Ein Kulturminister in Kanzlernähe, das war seine Idee für Gerhard Schröder; und was überhaupt das unermüdliche Engagement für die SPD betraf, durfte man ihn durchaus den Günter Grass des deutschen Theaters nennen. Wegen des Asylbeschlusses freilich verließ er die Partei.
Begeistert parlierte er auch als Fußball-Philosoph und Vertrauter von Werder-Trainer Otto Rehhagel. Dem »Gekicke hemmungslos verfallen«, sah er in Vereinstreue eine Art »geliehener Heimat«. Was er nicht mochte, waren »gestörte Moralisten«, die zwar Fußball schauen, aber sich ständig bemüßigt fühlen, die eigene menschliche Anfälligkeit für affektives Verhalten zu glossieren und mit kritischer Knickrigkeit zu relativieren. Fußball müsse immer »ein bisschen Richard III.« sein – dunkle und grelle, hohe und niederste Empfindungen, inmitten aller Glätte des Geschäfts. Es sei doch wunderbar, »sich von einer zwecklosen Nichtigkeit großherzig hinreißen zu lassen«. Ein Satz, von dem man bis heute nicht weiß: Sprach da der Werder-Fan oder der Kanzler-Berater?
Er hielt Peter Brook, Luigi Nono und Jürgen Habermas für die drei klügsten Köpfe unserer Zeit. Als junger Wilder bezeichnete er das bürgerliche Stadttheater als »scheißliberal«. Und später? »Brille, Bart und Bäuchlein« – so beschrieb er sich selbst. Eine schnelle Karriere jenseits der Stürme. Und so wurde er in seinen Inszenierungen ein leiser Protagonist lebenswert bürgerlicher Kulturwerte, avancierte zum heiteren Melancholiker, zum aufgeräumten Dämmerungsmenschen, der dem Verschwinden eines übermächtigen Idealismus gelöst zusehen konnte wie einem leuchtenden Sonnenuntergang.
Er brillierte lange als ein Schauspielregisseur des ruhigen Herzschlags, Stücke gerieten unter seiner Regie nie in Bluthochdruck. Er war kein Genie der Heftigkeit wie Zadek, kein glühender Dramaturg wie Stein, kein Dickschädel wie Peymann, er ging pfleglich mit allem um; seine Inszenierungen boten ihre Provokationen eher in liebenswürdiger Volksausgabe für die bessere Bibliothek an. Der Regisseur, international erfolgreich auch mit Operninszenierungen, etwa einem 16-stündigen »Ring des Nibelungen« in Bayreuth, bekannte sich in einer Mischung aus Geschick, Ehrgeiz und Verbindlichkeit zur Kunst des Verträglichen. Ja, für Bürger und Mitte, die immerhin Wesentliches tun für die geistige Beweglichkeit einer Gesellschaft.
Sollten sich Zeitgeist und Traditionsbewusstsein weiter streiten, sollten sich junges originalitätssüchtiges Regietheater und dichtertreue Altherrenriege weiter geharnischt duellieren und gegenseitig feuilletonieren – bei Flimm wurde die gebildet-professionelle Ruhestellung gegen den hektischen gewerblichen Aufruhr gesetzt; mit zünftigem Handwerksethos wurde bei ihm, wo es nur ging, Friedfertigkeit installiert und sehr farbig Verschwendung gefeiert: Kinder, macht doch nicht so ein Theater, es ist ja alles nur Theater.
Die Umtriebigkeit nach dem Ende seiner Intendanz führte ihn zu einem Rundkurs durch Festspielhäuser und Institutionen: als Chef der Ruhr-Triennale, als Intendant der Salzburger Festspiele, als Intendant der Deutschen Staatsoper Unter den Linden. Ein Multifunktionierender gleichsam, ironisch als »Beckenbauer des deutschen Theaters« tituliert. Einer, der in rasanter Vielbeschäftigung – in sich ruhte. Er fieberte irgendwann nicht mehr nach jeder Regie, aber durchaus noch immer nach einer Rampe, von wo aus man Publikum sieht.
Was ihm in Schauspiel und Oper besonders gelang, waren die Liebesgezeichneten, die Legastheniker des Lebens. Deren untergrabene Willenskraft, in großer Seelenpein, um einen Trost bat, einen Trost, der aber nicht ihre Würde kosten sollte. In seinen Aufführungen nistete noch im Klirren ein Kichern. Selbst über stärkste Körperexplosionen war eine Decke wärmender Gefasstheit geworfen. In bittersten Selbsterfahrungen das Glimmen der Hoffnung, man könne glücklicher leben. Man kann’s natürlich nicht. Die Welt, eine Scheibe: Wir Menschen drehen uns um uns selbst – aber auch so ist, für Momente, Beschwingtheit möglich.
Dieser Regisseur schuf ein Theater zwischen der einen Zeit, die alles in den Ruhm hinauftreibt, und der anderen, die alles ins Geraune von Überlebtheit und Altmode herabzieht. Er trieb nahezu 100 Stücke der Weltdramatik sinnend hinab in eine Kunsthimmelhölle oder hinauf in einen Kunsthöllenhimmel. Und er ließ, was er schuf, auch gern und grinsend auf die Bühnenbretter krachen. Theater, dessen Urgrund aber stets das Edel-Ethische einer unbedingt aufklärerischen Kunst blieb.
Am Sonnabend ist Jürgen Flimm mit 81 Jahren in der Nähe von Hamburg gestorben.
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