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Gesamtmetall kann sich nicht mit Arbeitszeiterfassung abfinden
Arbeitgeberverband fordert Flexibilisierung der gesetzlich zulässigen Arbeitszeiten und Ausnahme bei Arbeitszeiterfassung
Die Arbeitgeber haben gerade etwas Bammel, was das Bundesarbeitsministerium derzeit erarbeitet. Er habe Sorge, dass das von Hubertus Heil (SPD) geführte Ministerium eine »enge Auffassung« habe, was das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur Arbeitszeiterfassung bedeutet, eine Neuregelung könne »für uns eine große Einschränkung« bedeuten, erklärte Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf am Dienstag in Berlin. Er ist qua Amt so etwas wie der Cheflobbyist der Arbeitgeber der Metall- und Elektrobranche.
Stein des Anstoßes: Es soll gesetzlich geregelt werden, dass die Arbeitszeit aller Beschäftigten künftig vom Arbeitgeber erfasst werden muss. »Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehen«, heißt es dazu im Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP. In einem bahnbrechenden Urteil stellte der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Jahr 2019 nämlich klar, dass eine Erfassung lediglich von Überstunden nicht ausreicht. Alle EU-Staaten sind demnach verpflichtet, »ein System einzurichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann«.
Lange Zeit stritten sich deshalb Juristen, ob damit automatisch die Pflicht zur generellen Arbeitszeiterfassung gilt. Arbeitgeberfreundliche Juristen waren dabei der Ansicht, dass der Gesetzgeber vorher ein entsprechendes Gesetz verabschieden müsse, arbeitnehmerfreundliche Juristen meinten, dass die Vorgaben des EuGH automatisch gelten. Vergangenen September sprach das Bundesarbeitsgericht dann ein Machtwort: Die Arbeitgeber seien verpflichtet, »ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann«, entschieden die höchsten deutschen Arbeitsrichter in Erfurt. Der Bundesarbeitsminister hatte daraufhin eine schnelle Reform des Arbeitszeitgesetzes angekündigt und arbeitet derzeit an einem Gesetzesentwurf.
Glaubt man Gesamtmetall-Chef Wolf, dann hat das Urteil des Bundesarbeitsgerichts »Anwaltskanzleien und Berater sofort in Goldgräberstimmung versetzt«. Diese würden nun »durch die Lande ziehen und versuchen, die erstandene Unsicherheit in hohe Beraterhonorare umzumünzen«.
Doch bei der Industriegewerkschaft IG Metall ist man nicht so verunsichert. »Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ist eindeutig: Arbeitszeiten müssen erfasst werden, daran führt kein Weg vorbei«, wies IG-Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban am Dienstag den Versuch der Arbeitgeberseite zurück, die Vorgaben aufzuweichen.
Dennoch glaubt Wolf, dass der Gesetzgeber nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts einen weiten Spielraum bei künftigen Reformen habe, den er bisher noch nicht ausgeschöpft hat. Um für seine Interessen zu lobbyieren und seine Sicht der Dinge zu untermauern, hat sein Verband gleich drei Gutachten in Auftrag aufgegeben, die am Dienstag in Berlin vorgestellt wurden. Demnach werden angeblich die Arbeitszeiten dort, wo es notwendig ist, jetzt schon erfasst und aufgezeichnet. So will der Gesamtmetall-Präsident, dass eine »einvernehmlich vereinbarte Vertrauensarbeitszeit auch künftig von einer minutengenauen Erfassung der Arbeitszeit ausgenommen« ist.
Jedoch verwiesen bereits die EuGH-Richter in ihrem Urteil auf die EU-Arbeitszeitrichtlinie und EU-Grundrechtecharta, die »das Grundrecht eines jeden Arbeitnehmers auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten« verbürgten. Ohne die Arbeitszeiterfassung kann dieser Schutz demnach nicht gewährleistet werden. So leisteten die Beschäftigten hierzulande allein im Coronajahr über 1,7 Milliarden Überstunden, über die Hälfte davon waren unbezahlt. Das macht laut den Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung im Schnitt 21,8 Überstunden, für die die Arbeitgeber kein Äquivalent zahlten.
Hinzu kommt, dass eine Entgrenzung der Arbeitszeit in Betrieben ohne Arbeitszeiterfassung wahrscheinlicher ist, wie eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zeigt. Demnach konnten nur 45,8 Prozent der Beschäftigten, bei denen die Arbeitszeit nicht erfasst wird, der Aussage zustimmen, dass sie in ihrer Freizeit (eher) nicht an die Arbeit denken. Bei Beschäftigten, von denen die Arbeitszeit betrieblich dokumentiert wird, waren es hingegen 58,1 Prozent.
Wenn er an der gesetzlichen Pflicht zur Arbeitszeiterfassung nichts mehr ändern kann, dann will der Arbeitgeberpräsident zumindest im Kuhhandel flexiblere Arbeitszeiten durchsetzen. »Wer Wohlstand will, muss diese kurzen Arbeitszeiten dann wenigstens hochflexibel und unbürokratisch verteilen können«, forderte Wolf. Stechuhren passten nicht in die Zeit. So will er, dass in Zukunft statt einer Tageshöchst- eine Wochenhöchstarbeitszeit gelten soll. Zudem solle es Möglichkeiten geben, von geltenden Ruhezeiten abzuweichen.
Naturgemäß werden auch diese Begehrlichkeiten von der Gesamtmetall-Sozialpartnerin, der IG Metall, zurückgewiesen. »Die Arbeitszeiten massiv auszudehnen und die Ruhezeiten zu verkürzen, ist kein Beitrag zur Fachkräftesicherung«, stellte IG-Metall-Vorstand Urban klar. Wer über das jetzige gesetzliche Maß hinaus arbeiten lassen wolle, betreibe Raubbau an der Gesundheit der Beschäftigten. »Viele arbeiten heute schon am und über dem gesundheitlichen Limit. Die Arbeitsmedizin lehrt, dass es harte Grenzen bei der Dauer gibt«, so der Gewerkschafter. Lange und zu lange Arbeitszeiten führten zu höheren Krankenständen, einer höheren Unfallgefahr und langfristig zu mehr Erwerbsgeminderten. Das nutze niemandem.
So lässt Urban auch das Argument von Wolf nicht gelten, dass flexiblere, gesetzliche Arbeitszeitregeln auch im Sinne von insbesondere jungen Arbeitnehmern seien. »Gesetzlich festgelegte Arbeits- und Ruhezeiten schützen alle Beschäftigten vor dem Hamsterrad. Wenn, dann wollen Beschäftigte eine wirkliche Souveränität bei Arbeitszeiten und keine Arbeit auf Abruf zulasten von Freizeit und Familie«, so Urban. Bereits heute seien flexible Arbeitszeitmodelle möglich. »Wer wirklich Zeit auch für sich haben will, hat mit erfassten Arbeitszeiten seinem Arbeitgeber gegenüber eine entscheidende Grundlage.«
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