Im Stich gelassen

Menschen im Südosten der Türkei warten auf Hilfe

  • Svenja Huck
  • Lesedauer: 4 Min.

72 Stunden – das ist die Dauer, in der realistischerweise nach einem Erdbeben noch Lebende aus den Trümmern geborgen werden können. Danach wäre die Rettung Überlebender ein Wunder. Bereits kurz nach dem ersten Erdbeben der Stärke 7,8 mit dem Epizentrum Kahramanmaraş im Südosten der Türkei war das verheerende Ausmaß zu erahnen. In den Regionen Adana, Hatay, Adıyaman, Malatya, Şanlıurfa und Diyarbakır erzitterte die Erde so stark, dass Zehntausende unter den Trümmern ihrer Häuser begraben wurden. Wer sich retten konnte, begann umgehend mit den Bergungsarbeiten. Auch Nord-Syrien ist stark betroffen; im Libanon und Israel waren die Beben Berichten zufolge ebenfalls spürbar.

In dieser Region treffen drei tektonische Platten aufeinander. Über 900 Jahre hatte sich eine starke Spannung aufgebaut, die sich nun entlud. Doch ein Erdbeben allein, vor dem Seismolog*innen lange warnen, ist nicht der Grund für die hohe Zahl an Verletzten und Verstorbenen. Es sind die politischen Fehlentscheidungen und die fehlenden Investitionen in sicheren Gebäudebau, die den Menschen das Leben kosten. Wer nun fordert, nicht über Politik zu sprechen, will die Verantwortlichen ungeschoren davonkommen lassen. Dass viele Neubauten wie Kartenhäuser einstürzten, deutet auf Pfusch am Bau für schnelle Profite hin.

Während die offizielle Todeszahl am Dienstagmittag bei 3419 allein in der Türkei und 1600 in Syrien lag, sind in einigen Regionen immer noch keine staatlichen Such- und Rettungseinheiten eingetroffen. In der Türkei ist dafür die Katastrophenschutzbehörde AFAD zuständig, die dem Innenministerium untersteht. Die lokale Bevölkerung wirft der AFAD nun Versagen vor: Stromausfall, Wassermangel, instabile Kommunikationsverbindungen und fehlende Medikamente behindern die Versorgung der Verletzten und die Suche nach Verschütteten. Die Armee wurde nur zu einem geringen Teil mobilisiert, was ebenfalls auf Kritik stößt.

Der Zugang zur Erdbebenregion wird zwar erschwert durch starken Schneefall und die Beschädigung der Landebahn des Flughafens von Hatay, doch andere Rettungsteams, zum Beispiel entsandt von der Istanbuler Stadtverwaltung, sind bereits im Erdbebengebiet eingetroffen. In kürzester Zeit haben sich in vielen türkischen Städten Freiwillige organisiert, die Listen über benötigte Spenden erstellen und Hilfstransporte in die betroffene Region schicken. Sie berichten allerdings von versperrten Straßen. Vizepräsident Fuat Oktay verhängte ein 48-stündiges Zufahrtsverbot für Zivilfahrzeuge in die Regionen Hatay, Kahramanmaraş und Adıyaman.

Übereinstimmenden Berichten zufolge spielt die zivile Hilfe jedoch eine entscheidende Rolle in jenen Regionen, die die Einheiten der Katastrophenschutzbehörde noch nicht erreicht haben. Der Abgeordnete der Arbeiterpartei der Türkei (TİP), Ahmet Şık, berichtete am Dienstagvormittag dem Fernsehsender HalkTV live aus dem Stadtzentrum von Antakya: »Hier gibt es keine Bergungsarbeiten an den eingestürzten Gebäuden. Keine staatliche Organisation ist präsent.« Die Einwohner*innen der Stadt seien auf sich allein gestellt und würden nach eigenen Kräften die Bergungsarbeiten organisieren. Unter den Trümmern seien nach wie vor Stimmen von Verschütteten zu hören, so Şık.

Zu dem Schock und der Verzweiflung der Menschen kommt nun auch Wut, denn die Menschen vor Ort fühlen sich vom Staat im Stich gelassen. Nach Angaben der WHO sind etwa 23 Millionen Menschen insgesamt in der Region von den Erdbeben betroffen. In der Südost-Türkei leben vor allem Kurd*innen, Araber*innen und auch einige Armenier*innen, die in der Türkei strukturelle Diskriminierung erfahren. Sie vermuten, dass der Staat und die AKP-Regierung die Rettung absichtlich verzögern. Ein Mitarbeiter der Katastrophenschutzbehörde AFAD, der selbst aus der Region Hatay stammt, aber nicht namentlich genannt werden möchte, sagte gegenüber »nd«: »In den Bezirken Defne und Samandağ gibt es für die AKP keine Stimmen zu holen. Die sagen sich: Retten wir lieber Menschen in den Gebieten, die uns ihre Stimmen geben.«

Betroffen sind jedoch auch Gebiete, in denen die Regierungspartei große Zustimmung bekommt. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte angekündigt, die für Juni geplanten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen auf den 14. Mai vorzuziehen. In den nicht mehrheitlich türkisch-sunnitisch geprägten Gebieten ist die Unterstützung für die Oppositionsparteien größer. Welche politischen Auswirkungen das Erdbeben für die Wahlen haben wird, ist zu diesem Zeitpunkt noch ungewiss.

In den nächsten Tagen müssen Bergungsarbeiten durchgeführt und Notunterkünfte errichtet werden. Der Wiederaufbau dürfte Milliarden kosten, während die Türkei sich ohnehin in einer tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise befindet. Umso perfider sind die Berichte über einen schnellen Anstieg der Aktienwerte für Zement an der Istanbuler Börse. Am Dienstag hat Präsident Erdoğan für die betroffenen zehn Regionen einen dreimonatigen Ausnahmezustand verhängt.

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