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Mit dem gesunden Menschenverstand gegen den Wahn
Volker Reinhardt über Montaignes Philosophie in Zeiten des Krieges
Wie fortschrittlich kann ein Konservativer doch denken, schreiben und handeln! Seiner Zeit weit voraus tritt Michel de Montaigne im 16. Jahrhundert dem religiösen Wahn entgegen. In Frankreich toben die Religionskriege: Eine sich radikalisierende katholische Mehrheit zieht gegen eine große, nicht minder radikalisierte reformierte Minderheit. Die Bartholomäusnacht von 1572 ist der blutige Höhepunkt dieses Konflikts, dessen theologischen Hintergrund Montaigne in den »Essais« (frz.: Versuche) seiner ganzen Lächerlichkeit preisgibt.
Volker Reinhardt, Professor für Geschichte an der Universität von Fribourg, hat über diesen zwischen allen Stühlen schreibenden Philosophen eine »Philosophie in Zeiten des Krieges« geschrieben. In Jahren einer blind tobenden Inquisition, wahllosen Hexenverbrennungen und einer strengen Zensur bedurfte es eines großen taktischen Geschicks, ein Leben relativ unbeschadet zwischen den Kriegsparteien zu führen und dennoch »ketzerische« Schriften zu veröffentlichen. Von den taktischen Finessen des Michel de Montaignes, von seinen Verschleierungen und den seine Kritiker in die Irre führenden Täuschungen handelt diese sorgfältig recherchierte Biografie.
Montaigne wird 1533 als ältester Sohn in einer bürgerlichen Familie geboren. Seine Mutter entstammte einer Kaufmannsfamilie in Toulouse, sein Vater war angesehener Bürgermeister von Bordeaux. Er sorgt dafür, dass der Sohn als junger Mann an den Gerichtshof der Stadt berufen wird, in dem dieser bald ein schändliches Netzwerk an Korruption feststellt. Es ist ein steiniger Weg für Michel, gleiche Reputation wie sein Vater zu erlangen. Durch sorgsame Verwaltung des seit hundert Jahren im Familienbesitz befindlichen Landgutes und eine entsprechende Lebensführung gelingt ihm dies. Auf einer Reise nach Rom erfährt er, dass er auf Betreiben von mächtigen Freunden, die seine vernünftigen Einstellungen schätzten, wie sein Vater zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt worden ist. Nach zwei Jahren eher lustloser Amtsführung wird er wiedergewählt und sieht sich mit dem Chaos einer Pestepidemie konfrontiert.
1565 heiratet er Françoise de la Chassaigne. Aus der Ehe gehen sechs Kinder hervor, von denen nur die 1571 geborene Leonore das Erwachsenenalter erreicht. Nach dem Tod des Vaters erbt Michel dessen wichtigsten Titel und Güter, er zieht sich auf Schloss Montaigne zurück und veröffentlicht den literarischen Nachlass seines 1563 verstorbenen besten Freundes und philosophischen Vorbilds Etienne de Boétie. Er widmet die Edition hochgestellten Persönlichkeiten. Daraufhin wird er in den königlichen Ritterorden »Ordre de Saint Michel« aufgenommen und zum königlichen Kammerherrn ernannt. Damit ist sein aristokratischer Status gesichert.
1580 erscheinen seine ersten, auf Schloss Montaigne entstandenen »Essais« in einer zweibändigen Ausgabe, denen später weitere, ergänzte und veränderte Ausgaben folgen. Seine bei einer weiteren Romreise mitgeführten »Essais« werden von der päpstlichen Zensurbehörde konfisziert, schließlich aber mit der Ermahnung, einiges zu ändern, zurückerstattet. Auf diese päpstliche Unbedenklichkeitsbescheinigung kommt es ihm an. Aus den »Versuchen« wird philosophischer Klartext, den sein Biograf in überlegener Kenntnis des ganzen Werks überzeugend und großzügig auswählt und in eigener, moderner Übersetzung zitiert.
Als markantes Beispiel und Quintessenz für den philosophischen Klartext Montaignes wählt Reinhardt das 1588 veröffentlichte Essay »Wider den Wahn« aus, der die seinerzeit grassierenden Hexenverbrennungen aufs Korn nimmt. Montaigne ruft zum Gebrauch des »gesunden Menschenverstandes« auf, der die unter Folter erpressten »Geständnisse« als verfälschte Beweise verwerfen müsste. Jahrzehnte nach seinem Tod 1592 setzt die katholische Kirche Montaignes »Essais« doch noch auf den Index der verbotenen Bücher.
Volker Reinhardt: Montaigne. Philosophie in Zeiten des Krieges. C. H. Beck, 330 S., geb., 29,90 €.
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