Das falsche Dorf

In Upahl soll ein Camp für Geflüchtete gebaut werden. Gegner sehen die Dorfidylle gefährdet. Aber gibt’s die überhaupt?

  • Benjamin Beutler, Upahl
  • Lesedauer: 8 Min.

Das Erste, was bei der Einfahrt nach Upahl auffällt, ist der süßliche Geruch frisch gebrannter Kaffeebohnen. Im Gewerbegebiet, das sich zwischen Autobahn, Hauptstraße und der Siedlung Upahl bei Grevesmühlen erstreckt, steht eine hochmoderne Instantkaffeefabrik. Alle paar Minuten zischt es laut, und aus den silbernen Abgastürmen schießt eine weiße Wasserdampfwolke in den blauen Februarhimmel wie aufgeschäumte Milch in frischen Espresso.

Auf einem haushohen, grasbewachsenen Erdwall, der die vielen neuen Einfamilienheime des 500-Einwohner-Weilers vor dem Lärm der stark befahrenen Durchgangsstraße schützt, haben Anwohner eine Reihe Holzschilder in die Erde gerammt. »Angst um Upahl« steht da weit sichtbar in Großbuchstaben. Die rote Schrift sieht aus, als sei sie mit frischem Blut aufgepinselt. Daneben, auf zwei Spanplatten: »Upahl sagt Nein« und auf Englisch: »Help«. Weiter hinten ein Holzkreuz mit abgerundeten Ecken. »R.I.P.«, Ruhe in Frieden, steht auf dem sorgfältig ausgesägten Kardinalskreuz, festgemacht an einer ausgesägten Sarg-Silhouette: »Upahl«. Jeder, der über die Verbindungsstraße von Grevesmühlen in die Landeshauptstadt Schwerin fährt, muss an diesem hölzernen Gruselkabinett vorbei. Umgestoßen oder entfernt hat den makabren Lattenwald bisher niemand.

Zwei Wochen ist es her, dass die Upahler ihre Protestschilder aufgepflanzt haben. Weil der Kreistag von Nordwestmecklenburg am Verwaltungssitz Grevesmühlen – per Dringlichkeitssitzung und mit knapper Mehrheit – für die Errichtung einer Containerunterkunft gestimmt hat. Menschen auf der Flucht, aus Kriegsgebieten wie Syrien, Irak oder Afghanistan, sollen so lange in Upahl untergebracht werden, bis sie wissen, wie es weitergeht mit ihnen im friedlich-satten Deutschland. Während die Volksvertreter drinnen für den Bau einer Containeranlage in dem Gewerbegebiet votierten, versammelten sich draußen mehrere Hundert Gegner der Notunterkunft. Mit Trillerpfeifen, Megafon und Silvesterböllern machten die rund 700 Wutdörfler klar, dass sie alles, nur keine Fremden in ihrer Umgebung dulden. Auch eine Handvoll Neonazis und gewaltbereiter Fußballhooligans war Ortskundigen zufolge angereist. Als die Stimmung weiter hochkochte und ein Teil der Menschenmenge tatsächlich den Versuch unternahm, den Kreistag in Kapitol-Manier zu stürmen, griff die Polizei durch. Ob Flucht vor Krieg oder Flucht vor Armut – »mir egal, das sind alles Fremde!«, sagt ein Upahler später in die Kameras.

»Wir schließen! So kann Integration nicht funktionieren …!« Mit diesem Satz begründet das Corona-Testzentrum »An der Silberkuhle« im Gewerbegebiet seine Geschäftsaufgabe. Ein paar Tage ist es her, dass in dem rot-rot regierten Bundesland die letzten Corona-Maßnahmen aufgehoben wurden. Eine allgemeine Testpflicht gibt es nicht mehr. In Upahl sind die Fremden schon jetzt offenbar an allem schuld. Die DIN-A4-Aushänge sind in Farbe ausgedruckt, regensicher in Plastikfolien eingefasst, sorgfältig alle zehn Schritte mit Kabelbinder am metallenen Gartenzaun befestigt. Dahinter ein nigelnagelneues Mehrzweckhaus, drei Etagen, großzügige Lofts, Parkplatz, Baumarkt-Ritterburg für die Kleinen im Garten. Ein übergroßer Pitbull aus Plastik schaut vom Balkon im ersten Stock auf die Vorübergehenden hinunter. »Mit den Menschen, für die Menschen, vielen Dank an unsere Kunden für die wunderschöne Zeit«, bedankt sich der Testzentrum-Betreiber bei den wirklich willkommenen Menschen. Wenn die Geflüchteten kommen, so ein Argument der Upahler gegen den Containerbau, mache man sich Sorgen um die Immobilienpreise.

Eine Woche nach dem Kreistagsbeschluss sind die erbosten Upahler zu einer Bürgerversammlung eingeladen. Die aufgeschreckte Politik in Kreis und Land will erklären, besänftigen, verstehen. Man übt sich in Schadensbegrenzung. Der Vorwurf steht im Raum, die Anwohner seien nicht rechtzeitig über den Containerbau auf der grünen Wiese informiert worden. Hätte das etwas geändert?

Auf den Straßen von Upahl spürt man, dass eine mediale Welle über die Ortschaft gerollt ist und für viele auch eine Überforderung gewesen sein muss. Eine lokale Künstlerin aus der nahen Umgebung, über 80 Jahre alt, die wie Hunderttausende andere im Fluchtwinter 1945 auf einem Pferdewagen von Ostpreußen nach Mecklenburg kam, wägt ab: »Ich möchte wirklich kein falsches Urteil abgeben.« Einige Einwände gegen das »viel zu überdimensionierte Projekt für Geflüchtete und für die Upahler« seien »schon sehr sachlich«, erzählt die Galeriebetreiberin am Telefon. »Natürlich gibt es immer ein paar, die übertreiben«, so die gesprächige Dame, die sich bis heute als »Zugezogene« bezeichnet. Von der Containerunterkunft sei sie überrascht worden, »ich habe nichts gewusst«. Ihren Namen will sie lieber nicht in der Zeitung lesen. »Man kennt sich hier ja.«

Auch nach dem Infoabend bleiben die meisten aus Upahl unversöhnlich. Ihr Dorf sei zu klein. Man habe sie übergangen. Sie müssten für die Migrationspolitik in Berlin und Schwerin bluten. Zwei Journalistinnen bekommen mit, wie einer der Wortführer der besorgten Upahler im direkten Telefonkontakt mit Leif-Erik Holm steht. Der gebürtige Schweriner ist Vize-Fraktionsvorsitzender der AfD im Bundestag. Für die Rechtsaußenpartei will er ins Rathaus der Landeshauptstadt einziehen und macht seit Wochen Stimmung gegen Geflüchtete. Weil die Bundesregierung »nichts unternimmt, um die Masseneinwanderung zu stoppen«, würden die Unterkünfte in den Kommunen »volllaufen«, warnt er in einer Presseerklärung vor »Chaos« und einer »dramatischen Situation«. Per »Federstrich«, »blind und taub« würde Berlin vorgehen, »die Konsequenzen aber tragen die Bürger vor Ort«.

Wie immer will sich niemand in die rechte Ecke stellen lassen. Auch nicht die Upahler. Es gehe doch um »Sachfragen«, sagen viele. Wichtigstes Argument gegen die Notunterkunft für die Hilfesuchenden, so Wahlkämpfer Holm sei rein objektiv nämlich, »dass in einem 500-Einwohner-Dorf wie Upahl in Mecklenburg-Vorpommern 400 Migranten untergebracht werden sollen«. Viele, allen voran »Bild«, greifen diese Asterix-und-Obelix-Erzählung von der Bedrohung eines kleinen, aber so feinen Dorfes durch die angeblich anrückende Übermacht der Fremden auf. Das Springerblatt bringt eine verständnisvolle Homestory. Großaufnahme von dem Upahler Politiker Jan Achilles, der sich im heimischen Garten schützend und zu allem entschlossen vor seine bedrohte Tochter stellt. Die wendet ihr Gesicht ab, bleibt unerkannt, als sei sie schon jetzt schützenswertes Opfer eines Gewaltverbrechens.

Das Gemeinderatsmitglied für die Wählergemeinschaft Upahl kommt auch in einer Bürgerversammlung zu Wort. Seine Tochter habe in der Schule eine Initiative gegen Rassismus gestartet. Trotz ihres Engagements gegen fremdenfeindliche Vorurteile habe sie jetzt »Angst«, künftig allein im Bus zu fahren und allein unterwegs zu sein. Bewegt erzählt der Upahler, dass er nicht mehr richtig schlafen könne. Seit er wisse, dass das »Ghetto« komme, quälten ihn Albträume von Verbrechen und Gewalt. Im immer und immer wiederkommenden Traum würde er seine Tochter in der Gerichtsmedizin finden, deutet der Familienvater einen Sexualmord durch die Containerbewohner an. Um dann seinen Auftritt, der im Internet zu sehen ist, schluchzend, mit Tränen in den Augen und hochrotem Kopf abzubrechen.

»No Asyl, nein!«, haben Unbekannte vor einer sattgrünen Wiese im Gewerbegebiet mitten auf die Straße gepinselt. Wieder Englisch, damit es auch jeder versteht. Hier also sollen die Container hin, hier sollen die Geflüchteten ihre Zeit rumkriegen. Ungefähr 30 000 Quadratmeter ist die Freifläche groß. Platz ist wirklich das geringste Problem in Upahl, ein paar Meter hinter dem Ortsausgang erreicht man den Eingang zum räumlich klar abgegrenzten Gewerbegebiet.

Upahl war früher ein Bauerndorf, informiert das Rathaus Grevesmühlen. Die einstige Kreisstadt mit ihren rund 11 000 Einwohnern liegt nur 15 Minuten mit dem Bus von Upahl entfernt. Einer fährt jede Stunde. Heute zieht sich Upahl wie ein typisches Vorörtchen auf knapp einem halben Kilometer rechts und links an der Hauptstraße entlang. Zu DDR-Zeiten wurden mehrere Plattenwohnblöcke in den Ort hineingesetzt. Einen echten Dorfkern gibt es heute nicht – keine Dorfkneipe, keine Kirche, kein Park, kein öffentlicher Spielplatz, kein Schwimmbad, keine Schule, kein Supermarkt, nichts. Nur Wohnhäuser und die vielen neuen Einfamilienhäuser hinter dem Erdwall, viele offenbar mit kleinen Kindern, worauf die Rutschen, Schaukeln und Trampolins in den Vorgärten hindeuten. Upahl ein Dorf zu nennen, schafft ein falsches Bild. Ein idyllisches Dorfleben, eine dörfliche Struktur, all das gibt es hier nicht. Wer was erleben will, fährt nach Grevesmühlen oder nach Schwerin. Upahl ist eine dieser Durchgangssiedlungen und erinnert eher an einen Vorort im Speckgürtel von Berlin, Hamburg oder München. Ein Dorf aber ist es schon lange nicht mehr.

»Entschuldigen Sie, ist das hier die Wiese, wo das Containerdorf hin soll?« Die Mittfünfzigerin, die mit ihren zwei Bulldoggen durchs Gewerbegebiet läuft, zuckt kurz, schaut eine Sekunde, schnauft etwas wie ein »Ja« und geht wortlos weiter. Hinter der nahen Autobahn 20 drehen sich zwei Windräder für die Energiewende. In dem Gewerbegebiet, das rund 88 Hektar groß ist, haben sich in den letzten Jahren gut laufende Firmen angesiedelt. Die Arla Foods betreibt hier eine der modernsten Molkereien Europas und versorgt die Region. Alle paar Minuten rauscht ein Lastwagen vom Fabrikgelände in Richtung Hauptstraße, von der es direkt auf die Autobahn geht.

Vor einer Bushaltestelle sammeln sich zwei Dutzend Gestalten. Beim Näherkommen wird klar, dass sie aus einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung kommen. Neben einer Gummifabrik, einer Anlage für Transportbeton, einem Lack- und Karosseriezentrum von Mercedes-Benz, einem US-Landmaschinenhändler und anderen Unternehmen werden sie die neuen Nachbarn der Geflüchteten sein. Und sich künftig die Bushaltestelle teilen.

Eine Dreiviertelstunde im Bus braucht man bis Schwerin. Der Ort, der sich gegen die Fremden im Gewerbegebiet wehrt, liegt weitab vom Schuss. Am recht gut erhaltenen Kriegerdenkmal, das an die »gefallenen Helden« aus dem Ersten Weltkrieg erinnert, liegt ein kleiner Zettel: »#neinheisstnein, kleben für Upahl, blockieren wie im Wendland, Aktivisten blockieren Baustellenzufahrt, von Lützerath nach Upahl«. An der einzigen Kreuzung flattern Transparente, auch hier die ganz große Politik: »Bundesweiter Aufnahmestopp!« und: »Widerstand braucht euch alle«.

Zu Wochenbeginn kommen Bulldozer, begleitet von einzelnen Protesten, beginnt der Containerbau. Anfang März sollen die ersten Bewohner einziehen. »Upahl sagt immer noch nein!«, steht auf einem Transparent, das ein Anwohner direkt hinter einer Bushaltestelle an der Hauptstraße aus dem Fenster gehängt hat. Auf dem Dachfirst seines Nachbarn läuft ein Gartenzwerg, ein deutscher Michel mit Schlafmütze, mit ausgestreckten Armen schlafwandelnd dem Abgrund entgegen.

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