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In Oberhof lebte die DDR ein bisschen länger
Von der Kaderschmiede zum WM-Ort: Oberhof hat besonders im Biathlon eine reiche Geschichte
Wie ein Häufchen Elend hockte Benedikt Doll nach seinem ersten Oberhofer WM-Einsatz im Zielraum. Immer wieder schüttelte der Skijäger aus dem Schwarzwald den Kopf, fassungslos ob seines Fauxpas, den er sich als dritter Starter der deutschen Mixed-Staffel kurz zuvor geleistet hatte: Eine Strafrunde im Liegendanschlag – damit war der Traum vom frühen Edelmetallglanz für das Biathlonteam der Gastgeber passé. Und deshalb haderte Doll nun auch so gewaltig mit seinem »vogelwilden« Schießen und dem »Zittern im Arm« beim Nachladen. Ehe er zutiefst frustriert seufzte: »Dafür trainiert man eigentlich nicht 20 Jahre Biathlon.«
Als die internationale Skijäger-Elite im Februar 2004 am Rennsteig zuletzt um weltmeisterliche Ehren kämpfte, war Doll noch keine 14. Dank der guten Nachwuchsarbeit bei der Ski-Zunft Breitnau hatte er schon mit sieben mit Biathlon angefangen. Sieben Jahre vor der Premieren-WM in Oberhof – bei der die Journalisten in ihren Pressemappen noch mit den Adressen und Festnetznummern der deutschen Skijägerinnen und Skijäger versorgt wurden. Und die rund um die Wettkämpfe einige skurrile Geschichten schrieb.
Zum Beispiel die von Frank Luck, der, nach einem mäßigen Winter, beim Saisonhöhepunkt kein einziges Einzelrennen bestreiten durfte, den Gold-Coup der deutschen Männer-Staffel dann aber als Startläufer mit einer exquisiten Leistung einleitete – und seine Karriere unmittelbar danach beendete. Oder die von Sven Fischer, ebenfalls Mitglied des goldenen Quartetts des Deutschen Skiverbands (DSV), der fünf Tage zuvor beim Sieg von Ricco Groß in der Verfolgung Achter geworden war. Ehe er anschließend nur kurz duschte und dann, noch mit der Startnummer am Leib, zu seiner Frau ins Krankenhaus fuhr – um die Gemahlin und das gemeinsame Töchterchen Emilia Sophie, am Mittwoch gerade 19 Jahre alt geworden, erstmals in seine Arme zu schließen.
Eine spezielle Geschichte schrieb die erste Februarhälfte 2004 auch im Leben von Kati Wilhelm. Die gebürtige Thüringerin, die ihre Wintersportkarriere als Langläuferin begonnen hatte und 1999 zum Doppelwettkampf mit Ski und Gewehr wechselte, war in ihrer neuen Branche zum Zeitpunkt der Heim-WM bereits Weltmeisterin und Olympiasiegerin geworden. Doch die Titelkämpfe in Oberhof, in dessen Sportgymnasium sie mit 14 gekommen war, wurden für Wilhelm zu einer sportlichen Enttäuschung – und dadurch zugleich zu einem erneuten Wendepunkt in ihrer Karriere.
»Das Stadion in Oberhof war fast neu. Und was Zuschauer und Begeisterung anging, war diese Weltmeisterschaft in den Ausmaßen sicherlich die bis dahin größte«, offenbart Kati Wilhelm im Gespräch mit »nd« durchaus auch positive Erinnerungen an die WM, die zu Festspielen für das norwegisch-französische Ehepaar Liv Grete und Raphael Poirée (insgesamt siebenmal Gold) wurden. Doch die heute 46-jährige Wilhelm weiß auch dies: »Zur WM hat es dann gefühlt nur noch geregnet.«
Das seien Bedingungen gewesen, mit denen sie als Athletin damals noch nicht so richtig klargekommen sei, räumt Wilhelm heute ein. Und dann erzählt sie von einem abendlichen Bier in der nahe gelegenen Kaserne – das weitreichende Folgen hatte: Mit dem Koch des deutschen Biathlonteams und Fritz Fischer, dem damaligen Disziplintrainer der deutschen Männer, habe sie zusammengesessen und den Entschluss gefasst, zur Vorbereitung auf die nächste Saison nach Ruhpolding zu wechseln.
»Ich wusste, dass es anders werden muss, wenn ich besser werden will. In Oberhof war alles eingespielt: Ich hatte meine Trainingsgruppe, alles war immer top organisiert. Ich kannte jeden Fleck dort, bin jeden Tag zur selben Uhrzeit rausgegangen«, berichtet Wilhelm. Das sei wie ein Film gewesen, der ständig abläuft – in dem sie aber nicht länger mitspielen wollte. »Ich hatte Sehnsucht nach mehr Freiraum, mehr Entscheidungsmöglichkeiten, nach etwas Neuem«, rekapituliert die dreifache Olympiasiegerin – und erläutert das Ausmaß ihrer Entscheidung: »Ich musste mich in Ruhpolding komplett neu zurechtfinden und selbst organisieren. Diese Veränderung hat mich wachgerüttelt, das hat bei mir noch mal eine ganz andere Motivation entfacht.«
Zwei Jahre nach dem Umzug in den Chiemgau gewann Kati Wilhelm bei den Winterspielen in Turin Gold in der Verfolgung. Nicht ganz nach oben aufs olympische Siegertreppchen, aber auf immerhin zwei Silbermedaillen 2014 in Sotschi brachte es Erik Lesser. Der meinungsstarke Ex-Biathlet, 16 Kilometer von Oberhof entfernt in Suhl geboren und im vergangenen März vom Leistungssport zurückgetreten, besuchte wie Wilhelm das Oberhofer Sportgymnasium. Und auch wenn der Verfolgungs-Weltmeister von 2015 gerade mal 18 Monate alt war, als in Berlin die Mauer fiel, weiß er um die zentrale Rolle, die Oberhof als Kaderschmiede für den DDR-Wintersport spielte.
»Ich selbst habe mit Trainern aus der ehemaligen DDR zu tun gehabt, die früher Nationalmannschaftstrainer waren und später bis zum Nachwuchs hinuntergereicht wurden – oder auch dort arbeiten wollten. Im Sportverein hat man dieses DDR-System ja schon noch längere Zeit gefahren. Da musste man sich um Material keine Sorgen machen«, berichtet Lesser. Und der Vater von zwei kleinen Töchtern, der mit seiner Familie einen Kilometer Luftlinie von der WM-Arena entfernt wohnt, erklärt, nach welchem Motto das in seiner Jugendzeit lief: »Wir haben das hier im Verein, wir holen euch zu Hause ab und bringen euch auch wieder zurück.«
In manchen alten Bundesländern, überlegt Lesser, gebe es ein solches »Rundum-sorglos-Paket« in den Vereinen nicht. »Vielleicht im Fußball, aber im nordischen Wintersport habe ich davon noch nie etwas gehört«, ergänzt der 34-Jährige. Wobei der Mann, der sich in Köln gerade zum Diplom-Trainer ausbilden lässt, ja mal nachforschen könnte beim nur 22 Monate jüngeren Benedikt Doll. Dem früheren Teamkollegen und, zumindest in Lessers finaler Saison, Zimmerpartner, der am Mittwoch wie ein Häufchen Elend im Zielraum des Oberhofer Biathlonstadions hockte. Und der im Sprint an diesem Samstag nun einen ersten Anlauf nimmt, seinen persönlichen Albtraum aus der Mixed-Staffel zu vergessen.
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