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Mediatoren dringend gesucht
Der Arzt und Friedensaktivist Lars Pohlmeier über mögliche Auswege aus der Kriegslogik
Bundeskanzler Olaf Scholz propagiert seit dem Krieg in der Ukraine eine Zeitenwende. Das bezieht er auch auf die Bundeswehr. Wie gefährlich ist das aus Ihrer Sicht?
Dr. Lars Pohlmeier vertritt die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) seit 30 Jahren, darunter bei der UN, und ist Mit-Initiator der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN), die 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.
Das Wort Zeitenwende ist für mich eher das »Unwort des Jahres«. Es suggeriert, dass bestimmte Mechanismen von Diplomatie und Friedenssicherung obsolet seien. Und wir sehen in der Debatte, dass Phrasen wie »mit den Russen kann man nicht verhandeln« gebetsmühlenartig verbreitet werden. Zivilgesellschaftliche Kontakte nach Russland sind von westlicher Seite vielfach abgebrochen worden. Damit ist die zerstörerische Arbeit von Präsident Wladimir Putin an der eigenen russischen Gesellschaft von westlicher Seite in vorauseilendem Gehorsam erledigt worden. Das ist bitter.
Gibt es Perspektiven für Diplomatie?
Seit Jahrhunderten gibt es diplomatische Regeln. Dies aus gutem Grund. Wir müssen im Auge behalten, was nach dem Krieg sein soll. Wer nachhaltigen Frieden will, muss ein friedensfähiges Verhältnis mit Russland entwickeln. Das war in der Geschichte immer so und wir sind gut beraten, uns auch zukünftig daran zu halten. Das bedeutet weder ein Einverständnis mit dem Krieg von Präsident Putin gegen die Ukraine noch mit der furchtbaren Zerstörung der eigenen russischen Zivilgesellschaft. In der Güterabwägung werden wir vielleicht auch mit Präsident Putin zu tragbaren Vereinbarungen kommen müssen. Ich bin nicht naiv zu glauben, dass das einfach ist. Wir müssen uns aber auf diese Frage fokussieren. Waffenlieferungen können den Konflikt nicht befrieden. Es muss eine diplomatische Lösung geben, und zwar, bevor die Ukraine verwüstet ist, die Menschen vertrieben, getötet oder lebenslang traumatisiert sind.
Welche Alternativen zu Waffenlieferungen und Sanktionen sind im Ukraine-Krieg vorstellbar?
Wir brauchen einen Waffenstillstand, der ernsthafte Verhandlungen ermöglicht. Aber mit jedem Kriegstag wird es schwieriger, aus der Gewaltspirale zu entrinnen. Für Russland sind viele internationale Institutionen als westlich dominiert diskreditiert. Das ist teils vorgeschoben, teils durch den Westen mitverschuldet. Weder die USA noch Russland oder die Ukraine unterwerfen sich einer internationalen Gerichtsbarkeit. Das macht die Ahndung von Kriegsverbrechen nahezu unmöglich. Die USA haben leichtfertig Abrüstungsverträge gekündigt. Die Vereinigten Staaten sind nicht erst seit der Präsidentschaft von Donald Trump keine verlässlichen Vertragspartner mehr bei internationalen Abkommen. Das fällt jetzt auf uns alle zurück.
Wer könnte vermitteln?
Es müssen Mediatoren gefunden werden, die vermitteln können. Ihre Aufgabe wäre das Ende des Ukraine-Krieges. Die Vereinten Nationen wären hierfür im Grundsatz geeignet. Auch die Türkei hat sich angeboten. In Frage kommt insbesondere China, das im UN-Sicherheitsrat eine starke Rolle spielen kann, um einen Atomkrieg zu verhindern. Die Volksrepublik könnte den Vorschlag machen, dass die fünf Atommächte im Sicherheitsrat sich verpflichten, auf einen Ersteinsatz mit Atomwaffen zu verzichten. Das würde ein Signal der Entspannung senden, auch an die Atommächte Indien und Pakistan sowie an die Brics-Staaten Südafrika und Brasilien.
Und was ist mit den USA?
Sie nehmen eine besondere Rolle ein. Präsident Joe Biden wäre vielleicht am ehesten in der Lage, sowohl die ukrainische Regierung an den Verhandlungstisch zu zwingen als auch auf Augenhöhe mit der russischen Regierung ein pragmatisches Ergebnis zu erzielen. Auch in den USA gibt es warnende Stimmen wie die von General Mark Milley, der die Zeit für einen Waffenstillstand jetzt sieht. Die bewährten diplomatischen Prinzipien müssen Anwendung finden. Zuerst sollten einfache Fragen wie militärische Schutzzonen um Atomanlagen geklärt werden. Das von den UN und der Türkei vermittelte Getreideabkommen zeigt immer noch Wirkung. Schwierige Fragen sollten ausgeklammert werden. Für die Krim könnte ein Moratorium vorgeschlagen werden.
Unter welchen Bedingungen könnten die Ergebnisse umgesetzt werden?
Um die Einigungen umzusetzen, sind ausreichend Ressourcen für polizeiliche Kontrollmaßnahmen und internationale Beobachter nötig. Diese Aufgaben könnten UN-Blauhelme oder eine OSZE-Delegation übernehmen. Sie müssen personell und finanziell so aufgestellt sein, dass sie die Aufgaben, anders als in der Vergangenheit, erfüllen können. Im Rahmen des Minsker Abkommens, das den seit 2014 herrschenden Krieg in der Ostukraine beenden sollte, ist die OSZE nicht per se gescheitert. Sie wurde nur nicht ausreichend politisch unterstützt und war personell hoffnungslos unterbesetzt. Zivilgesellschaftliche Kontakte auf vielen Ebenen sind unabdingbar für einen nachhaltigen Friedensprozess. Das wird zwischen Russ*innen und Ukrainer*innen direkt ein zunächst schwieriger Prozess werden. Umso wichtiger ist es, dass andere Länder, darunter Deutschland, mit historisch engen Verbindungen in die Region hier eine Brückenfunktion einnehmen. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind der autoritären Putin-Präsidentschaft oft zum Opfer gefallen. Nicht wenige unbedachte Sanktionen aus dem Westen haben wichtigen Projekten den Rest gegeben. Zusammenarbeit beginnt bei professionellem Austausch, etwa medizinischen Fachgesellschaften oder auch der Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern in Russland wie übrigens auch der Ukraine. Ziel muss sein, das Zusammenleben mit den vielen Staaten der ehemaligen UdSSR auf bessere Füße zu stellen, statt alle Brücken mit Russland abzubrechen, die politische Führungsrolle an die Ukraine zu übertragen und die anderen Staaten »zu vergessen«.
Wie könnte eine langfristige stabile Sicherheitsarchitektur aussehen?
Eine neue europäische Sicherheitsarchitektur erscheint derzeit wie ein naiver Traum. Dennoch ist es notwendig, dies jetzt zu durchdenken. Die Nato ist per Definition eine Interessengemeinschaft und bleibt ein exklusiver Club. Es ist uns aus der Zivilgesellschaft nicht gelungen, die Forderung nach der Implementierung inklusiver supranationaler Organisationen wie der OSZE politisch durchzusetzen. Das ist bedauerlich, aber macht friedenspolitische Arbeit umso wichtiger. Wir haben vor dem Hintergrund der Klimakrise als Gesellschaften gar nicht die Ressourcen, in einen langjährigen Rüstungswettlauf mit Russland und China einzutreten. Wir müssen wieder zurück dazu, universelle demokratische Werte zu vereinbaren, deren Einhaltung überprüft und bei Verstößen durch unabhängige internationale Gremien sanktioniert werden. Und wir müssen endlich dazu bereit sein, uns solchen Regeln auch selbst zu unterwerfen und dies nicht nur von anderen zu fordern.
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