Der stumme Schmerz

Aufwachsen in der BRD Noir: Paul Bokowskis Debütroman »Schlesenburg« über Reden, Schweigen und die Kraft des Erinnerns in migrantischen Ostblock-Familien

  • Mirco Drewes
  • Lesedauer: 6 Min.
Wohnschubfächer gleich einer Burg für Migrant*innen aus dem Osten und dem globalen Süden in Köln
Wohnschubfächer gleich einer Burg für Migrant*innen aus dem Osten und dem globalen Süden in Köln

Familien mit Migrationsgeschichten müssen anfangen, ihre Geschichten zu erzählen, auch damit die Mehrheitsgesellschaft ein vielfältigeres Bild erhält», wünscht sich der Berliner Schriftsteller Paul Bokowski. Und fordert entsprechende Förderung: «Eine Geschichte erzählen zu können, muss man sich leisten können. Nur jemand, der finanziell abgesichert ist, kann es sich leisten, sich die Zeit zu nehmen, eine Geschichte zu erzählen. Es ist wichtig, dass wir die Hürden dafür gering halten. Dass Menschen mit Migrationshintergrund die Gelegenheit erhalten, ihre Geschichte zu erzählen.»

Paul Bokowski hat sich als Autor satirischer Kurzgeschichten einen Namen gemacht. In drei Geschichtenbänden erzählt er lakonisch und mit ironischer Distanz aus dem Alltag im Schmelztiegel, Berlins rauem Norden. In Bokowskis Wedding trifft Bohème auf multikulturelles Prekariat, Anspruch auf Wirklichkeit, und die Differenz dazwischen ist der Ort persönlicher Sinnsuche. Der polnisch-katholische Background des Ich-Erzählers markiert die Fallhöhe.

In seinem autofiktionalen Debütroman macht Bokowski nun überzeugend ernst: «Schlesenburg» ist ein berührendes Dokument der Erinnerungskultur und leistet einen wichtigen literarischen Beitrag zur Debatte über Herkunft, Integration und Identität. Der Roman erzählt die Geschichte eines Aufwachsens in einer Sozialbausiedlung in Westdeutschland als Kind polnischer Geflüchteter in den 1980er Jahren: Leben in der BRD Noir.

«Schlesenburg», das ist der rassistische Schmähbegriff der Bessersituierten für die neu errichtete Sozialbausiedlung am Rande einer rheinland-pfälzischen Mittelstadt. Die überwiegend aus Polen stammenden Bewohner*innen der Burg übernehmen den Begriff. Wie überhaupt ein bemerkenswerter Willen zur Hyperintegration vorherrscht. Die Eltern des Ich-Erzählers verdrängen die eigene Herkunftsgeschichte. Polnisch sprechen sie nur in emotionalen Ausnahmesituationen, ihre Kinder ziehen sie ausschließlich in der Zweitsprache groß. Möglichst vollständig soll die Integration in Deutschland gelingen, eigentlich ist Assimilation das Ziel. Bokowski betont im Gespräch, dass «sich die Flucht von einem politischen System ins andere, vom Kommunismus in den Kapitalismus, sehr final anfühlte. Damals gab es kaum stille Hoffnung auf Rückkehr, wie heutige Geflohene sie hegen mögen. Bei den Migranten aus dem ehemaligen Ostblock», erklärt er, «ging es vor allem darum, schnell stabilen Wohlstand aufzubauen. Der Heimat und der Herkunft wurde in der Erziehung der nachgeborenen Kinder kaum Bedeutung beigemessen.»

Die Siedlung bildet den Anfangs- und Endpunkt des Erlebens des Erzählers, sie ist der Horizont ihrer Kinder. Die Burg ist ein identitätsstiftender Ort, sie ist ein Bollwerk der Differenz und grenzt seine Bewohnerschaft von der Welt der Mehrheitsgesellschaft ab. Als sozialer Ort ist sie dialektisch konstruiert, bietet Schutz und homogenisiert nach innen, stigmatisiert und schließt aus nach außen. Das Gros der Bewohner*innen verlässt die Burg ausschließlich zum Schichtdienst in der, sich an der Arbeitskraft der Geflüchteten weidlich bedienenden, nahen Papierfabrik. Die immer wieder in der Burg auftauchenden Hakenkreuzschmierereien sind böse Grüße einer ansonsten hinter unsichtbaren Mauern unerreichbaren Welt. Rassismus erscheint in Bokowskis Roman als stets neu reproduziertes Abwertungskonstrukt, das die gesamte Lebenswelt durchdringt. «Angst», sagt Paul Bokowski, «ist der treibende Motor von Rassismus. Die Angst zu verlieren gegen das Fremde, gegen das Unbekannte, das Neue, das Nachkommende. Die Mehrheitsgesellschaft der BRD hatte Angst vor den Flüchtlingen aus Polen, weil sie Angst um ihren Wohlstand hatte. Und die Bewohner der Schlesenburg hatten Angst vor den nachkommenden Flüchtlingen aus dem Asylbewerberheim. Davor, dass der wacklige Status, den sie sich aufgebaut hatten, verloren geht, wenn man nur etwas weniger verbissen an die Sache rangeht.»

Aus der Perspektive des Kindes erzählt der Roman sehr lebensnah vom Aufwachsen in der Siedlung. Die Erzählung verläuft nicht strikt linear, Erzählstränge werden aufgenommen, verlegt, wieder aufgegriffen und neu bewertet. Bokowski entwirft eine suchende Architektur des Erinnerns. Erlebtes wird als Teil einer Erinnerung hinterfragt, die ihrerseits geprägt ist von verdrängten Erlebnissen, von Leerstellen und Interpretationen, die Erlebtes in der Erinnerung überschreiben. «Erinnerung ist der kleinste gemeinsame Nenner, wenn sich eine Gruppe eine Form von Identität aufbaut. Da man den Kindern aus der Schlesenburg ihre Herkunft vorenthalten hat, gingen diese auf die erste kollektive Erinnerung zurück und das war die Geschichte der Flucht. In der Burg wurde immer wieder Flucht gespielt, die Kinder bezogen sich auf die Fluchtgeschichten der Erwachsenen, entwickelten daraus in ihren Spielen ein Amalgam, eine Standardfluchtgeschichte, um sich selbst eine Identität zu stiften», erinnert sich Bokowski. «Erst im Prozess des Erwachsenwerdens wird klar, dass die Erinnerung vielschichtig ist. Sie ist abhängig von der erzählenden Person, vom Geschlecht, sie ist abhängig davon, ob gemeinsam oder allein erzählt wird, sie ist abhängig vom Alter der erzählenden Person, ob sie die Vergangenheit verklärt oder nicht, ob sie nüchtern ist oder angetrunken. All das führt dazu, dass die Erinnerung an ein kollektives Ereignis in verschiedenen Varianten existiert, was nicht heißt, dass manche falsch sind, sondern dass es mehrere Wahrheiten gibt.»

Die Frage nach der Herkunft offenbart sich im migrantischen Kontext als Rekonfiguration von Gruppenidentität, als intergenerationelles Trauma des Schweigens, als prekäre Spurensuche, als verzweifelte Integrationsmühe und biografischer Verlust. Bokowski formuliert eine Grammatik verlorener Erinnerung, eines stummen Schmerzes, einer pränatalen Amputation kollektiver Bewusstseinsanteile, die die Generationen trennt. So analytisch wie hilflos heißt es im Roman: «Mutter vermisste ihre Eltern, Vater, etwas stiller, seinen Bruder, aber die meisten Kinder aus der Burg, die Hiergeborenen, hatte man von Anfang an so sauber abgekapselt von unserer Herkunft, von allen, die hinter dem Eisernen Vorhang hockten, dass jedes Vermissen nur ein Theoretikum bleiben konnte, ein Konzept. Allen Großen und Alten in der Schlesenburg war der Verlust eine tröstende Gemeinsamkeit […] Wir aber waren Keimlinge. Fortgetragen und in frische, aber fremde Erde gesetzt, die kein Gedächtnis hatte. Was uns verband, war allenfalls die Tatsache, dass jede Sehnsucht genau genommen eine Lüge war. Es gab keine klar sichtbare Lücke in mir, keinen Mangel, keine Mulde, nichts, was ich fühlen oder beheben konnte. Es gab nur dieses wabernde diffuse Gefühl, das etwas fehlte.»

Den Verlust der Muttersprache beschreibt Bokowski im Gespräch als Trauma einer Generation: «Viele Kinder migrantischer Familien aus dem Ostblock haben ihre Muttersprache nicht beigebracht bekommen, mit dem Ergebnis, dass sie sprachlich von ihrer Herkunft entkoppelt worden sind, dass sie nicht in der Lage waren, mit ihrer Großeltern, Onkeln und Tanten, die noch im Ostblock waren, ein Gespräch auf Augenhöhe zu führen. Und auch, dass die Sprache Deutsch, die sie mit ihren eigenen Eltern gesprochen haben, immer nur eine Kompromisssprache gewesen ist.»

Paul Bokowskis Roman «Schlesenburg» ist eine Stimme der verborgenen Geschichte Deutschlands als Einwanderungsland. Und ein Zeugnis des Humanismus, das Identität als Werden, als widersprüchliche Zugänglichkeit, als nicht-sanktionierte Erinnerung, als Gespräch der Generationen und geteilte Erfahrung, als möglicherweise heilende Erfindung erschließt.

Paul Bokowski: Schlesenburg.
btb, 320 S., geb. 22 €

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